Eine plurale Demokratie ist immer und konstitutiv auf Aushandlungsprozesse angewiesen. Sie lebt von einem konstruktiven Miteinander, von Streit in fairen Settings, vom Aushalten von Unterschieden, von Empathie für das Gegenüber und immer auch vom Zuhören und Reflektieren sowie von der grundsätzlichen Bereitschaft, das Wahrgenommene auch als potentiellen Lernanlass für Veränderungen der bisher als selbstverständlich wahrgenommenen eigenen Perspektiven und Haltungen wertzuschätzen. Für Demokratie ist eine Gesprächskultur fatal, in der sich ein zwischenmenschlicher Austausch nur auf das Senden von Ich-Botschaften reduziert.
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Aber: Wo gehen wir in Diskussionen? Wo halten wir die Kommunikation aufrecht, auch wenn unser Gegenüber nicht unsere Wertorientierungen und Weltanschauungen teilt? … und was ist, wenn das so richtig weh tut und eigentlich nur schwer auszuhalten ist? Wo ziehen wir Grenzen? Wo beenden wir Gespräche? Klar: vor dem Hintergrund unserer Orientierung am Grundgesetz können wir nie neutral sein; dürfen wir gegenüber Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Rechtsextremismus, Islamismus etc. nicht neutral sein. Aber wenn wir sagen: „Wenn die Grundwerte dieser Gesellschaft bedroht oder mit Füßen getreten werden, gilt es klare Grenzen zu ziehen.“ – Wie machen wir das? Wie machen wir das in sozialen Räumen, in denen z. B. rechte Denk- und Wahrnehmungsweisen nicht mehr „nur“ von Einzelnen, sondern von Vielen, vllt. sogar einer Mehrheit geteilt werden? Oder auch im pädagogischen Feld: Viele junge Menschen experimentieren mit Versatzstücken antidemokratischer Ideologien – wenn wir hier repressive Strategien wählen, das Gespräch beenden und ausgrenzen, ist das mit Blick auf andere Anwesende oder auch real oder potentiell z. B. von Rassismus oder Antisemitismus Betroffene ggf. sehr sinnvoll; aber wir reduzieren dann auch unsere Möglichkeiten zur pädagogischen Einflussnahme auf jene, die Problematisches artikuliert haben.
Im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „Miteinander Reden!“ laden wir Sie herzlich ein, um derartige Fragestellungen mit uns zu vertiefen:
Am Donnerstag, den 04.09.2025, 18.30 ‒ 20.00 Uhr, widmet sich PD Dr. Harald Weilnböck (Cultures Interactive e.V.) in einem Online-Vortrag sog. narrativen Gesprächsgruppen als Methode zur Förderung der demokratischen Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen, wobei es hier um Menschen geht, die ansonsten nur schwer ansprechbar oder erreichbar sind. Nr. 2213H
Am Donnerstag, den 02.10.2025, 18.30–20.00 Uhr, geht der Bildungswissenschaftler Marcus Kindlinger (Universität Duisburg-Essen und Universität Münster) in einem Vortrag darauf ein, dass Demokratie vom Streit lebt. Was aber, wenn sich Grenzverletzungen ereignen? Der Referent stellt die Frage „Wo endet der (offene) Diskurs?“ und blickt in seinem Beitrag vor allem auf die Grenzen politischer Streitkultur. Nr. 2218H
Am Dienstag, den 25.11.2025, 17.30–19.30 Uhr, setzt Lisa Frohn einen Workshop um, den sie unter den Titel „Sprechen & Zuhören“ gestellt hat und in dem die Frage „Wie geht es dir mit all dem, was gerade in der Welt passiert?“ im Mittelpunkt steht. Sprechen & Zuhören stellt ein besonderes Gesprächsformat dar, in dem der Name tatsächlich auch Programm ist. Nr. 2224H
Junger Campus“ in der Südstadt lud zum Auftakt seiner „Sommernächte“ zum Thema zivile Seenotrettung ein. Adrian Pourviseh las aus seiner Graphic Novel Das Schimmern der See.
Premiere feierten die „Sommernächte“ des „Jungen Campus“ in der Kölner Südstadt. Einladend mit Strandliegen und Decken war die Grünfläche im Innenhof der Kartäuserkirche bestückt. Getränke sorgten für Kühlung an diesem immer noch sehr warmen Abend. Entspannung oder eine wohlige Atmosphäre stellte sich bei den zahlreichen Besuchenden jedoch nicht ein. Dazu war das Thema der ersten Veranstaltung des „Jungen Campus“ ein zu schweres: die zivile Seenotrettung von Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer.
Graphic Novel: Das Schimmern der See
Der Seenotrettungs-Fotograf und Comic-Autor Adrian Pourviseh las nicht nur aus seinem Graphic-Novel-Debüt Das Schimmern der See – Als Seenotretter auf dem Mittelmeer. Der gebürtige Koblenzer, Jahrgang 1995, teilte auch seinen reichen Wissens- und Erfahrungsschatz hinsichtlich der Hintergründe und Wege von Flucht sowie der Behandlung von Geflüchteten. Im Mittelpunkt standen seine Erlebnisse bei einer Seenotrettungsmission auf der Sea-Watch 3 im Sommer 2021. Deren Einsätze hat er als Videograf und Fotograf dokumentiert und zudem in Situationen, „wo es um Leben oder Tod geht“, mit angepackt.
Kooperation von MAK und Juref
Zunächst führten Lea Braun, Studienleiterin der Melanchthon-Akademie (MAK), und Jugendbildungsreferent Noël Bosch vom Evangelischen Jugendreferat in Köln und Region (Juref) in das von beiden Einrichtungen initiierte Bildungsformat für Menschen zwischen zwanzig und vierzig Jahren ein. „Etwas Schönes erwartet uns“, wies Braun darauf hin, dass hinter der Kartäuserkirche der Campus Kartause entstehe. „Das wird unser neuer Arbeitsort in gar nicht so entfernter Zeit. Dort ziehen wir zusammen mit unseren Strukturen in ein Haus der Bildung.“ Es bestehe eine gewisse Überschneidung in der Erwachsenenbildung, der Jugendbildung und vielleicht in der Familienbildung. Für die angesprochene Altersgruppe könne man dort „supergut etwas zusammen machen“ und explizite Angebote entwickeln. Bosch ergänzte: „Ganz viele junge Menschen werden dort einziehen. Deshalb wollen wir auch in Kontakt treten. Heute findet Teil eins statt.“
Persönliche Einblicke und kritische Perspektiven
„Das ist wahrscheinlich einer der schönsten Orte, an denen ich bisher gelesen habe“, leitete Pourviseh ein. Um alle Besuchenden in sein Buch mit hineinnehmen zu können, klärte er vorweg die Grundlagen der Migration über das zentrale Mittelmeer. Rasch wurde deutlich, dass hier nicht ein Referent routiniert ein x-mal erprobtes Konzept abspulte, sondern ein Zeuge des Geschehens, ein Beteiligter einfühlsam wie engagiert die Anwesenden mit Ereignissen und Zuständen konfrontierte, die man gerade auch eingedenk von EU-Entscheidungen und des Vorgehens vieler europäischer Staaten als unfassbar bezeichnen darf.
„Ich male in mein Tagebuch, um die Momente zu verarbeiten.“
Ruhig im Ton und eindrücklich in der Schilderung der eigenen Erlebnisse, klar in seinen Aussagen und entschieden in seiner Kritik, nahm Pourviseh die Gäste von Beginn an gefangen. Er habe immer auch mitgekritzelt, stellte er zunächst Inhalte aus seinem gezeichneten Tagebuch vor, in das er ebenso beim Einsatz entstandene Fotografien einklebt. „Ich male in mein Tagebuch, um die Momente zu verarbeiten.“ Das habe ihm auch geholfen, den später im Buch beschriebenen Einsatz greifbar zu machen. Auf diese Weise habe er mit Geretteten nochmal anders in Kontakt treten können als nur als Fotograf.
„Menschen fliehen aus verschiedensten Gründen.“
Es gebe nicht eine exemplarische Geschichte, die Flucht erklären könne, so Pourviseh. „Menschen fliehen aus verschiedensten Gründen und nehmen die unterschiedlichsten Routen.“ Dennoch passierten zahlreiche Flüchtende aus dem Süden Afrikas auf der Route durch die Wüste nach Libyen und über das Mittelmeer einige feste Fixpunkte. Um die Geschichte und Erlebnisse von Fatima, die ihm ihre Flucht schilderte, zu visualisieren, entwickelte Pourviseh eine Animation.
Mutige Kapitänin Carola Rackete
Bevor diese eingespielt wurde, erinnerte er an die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete. Sie hatte 2019 mit 47 aus dem Mittelmeer geretteten Geflüchteten, darunter Fatima, versucht, in den Hafen von Lampedusa einzulaufen. Das italienische Innenministerium verweigerte dies. Nach über zwei Wochen im Wartezustand entschied sich Rackete wegen der psychischen Belastung der Menschen an Bord, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Unter großem Medienrummel wurde die Kapitänin angeklagt. „Für die Seenotrettung war dieser einzelne Fall sehr schlimm. Intern kann man aber auch sagen, dass eine große Aufmerksamkeit auf die Seenotrettung gelenkt wurde und es sehr viele Spenden gab.“ Rückblickend sei es vom damaligen Innenminister Matteo Salvini, der das Verfahren verlor, ein großer Fehler gewesen, aus dem die aktuelle italienische Regierung gelernt habe.
Todeszahlen in der Sahara doppelt so hoch wie im Mittelmeer
Fatima sei durch das Land Niger gereist und habe an Checkpoints vorbei durch die tiefe Wüste fahren müssen. Dort zeigten Satellitenbilder Reifenspuren im Sand. „Was wir nicht sehen können, sind die Leichen, die nach drei, vier Stunden vom Flugsand überdeckt werden.“ Das UN-Unterorgan Missing Migrants Project (IOM) geht davon aus, dass in der Sahara die Todeszahlen geflüchteter Menschen ungefähr doppelt so hoch seien wie im Mittelmeer. „Wir reden nur nicht so oft darüber, weil wir keine offiziellen Zahlen haben.“
Libysche Milizen und Lager als System der Erpressung
Wer es durch die Wüste geschafft habe, komme nach Libyen – ein Land im Bürgerkriegszustand. „Verschiedene Milizen kämpfen um die Vorherrschaft. Und wer als schwarze Person in diesem Land nicht den Schutz eines Arbeitgebers genießt, kann auf offener Straße entführt werden.“ In Gefängnissen und Lagern, wo auch Fatima untergebracht war, würden die Verschleppten gefoltert, Frauen vergewaltigt und die Bilder an Familienmitglieder geschickt, um Geld zu erpressen. Eine Vertreterin des Auswärtigen Amtes habe die Zustände als KZ-ähnlich beschrieben. Die meisten Menschen auf der Flucht wüssten nicht, was sie in Libyen erwarte.
Tunesische Nationalgarde setzt Menschen in der Wüste aus
In den Westen nach Algerien oder Tunesien zu gehen, sei früher eine „bessere“ Option gewesen – bis 2023. Seitdem jage die tunesische Nationalgarde schwarze Menschen aus den Städten, um sie in der Wüste auszusetzen. „Tunesien bekommt diese Arbeit von der EU über den ‚EU-Migrationsdeal‘ bezahlt.“ Deshalb entschieden sich viele Betroffene für den Weg über das Meer. Seit 2014 seien im Mittelmeer und auf den Mittelmeerrouten über 32.000 Menschen gestorben oder werden vermisst. Das zentrale Mittelmeer südlich von Sizilien gilt als tödlichste Seegrenze der Welt – genau dort sind Organisationen wie Sea-Watch unterwegs.
Pullbacks und die Rolle Europas
Farbige Punkte und Linien in Seekarten markieren Verantwortungsbereiche für verschiedene Länder. „Es ist deswegen wichtig, weil die Libyer die aufgegriffenen Menschen in ihre Folterlager zurückbringen. Dafür werden sie von europäischem Steuergeld bezahlt.“ Sie würden auch von der Bundespolizei ausgebildet – doch die libysche Küstenwache „rettet“ mit Brutalität. „Sie zwingt Menschen teilweise mit Waffengewalt auf ihre Boote.“ Das gelte auch, wenn sie sich in internationalen Gewässern befänden. Libyen habe nie die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Das Land „macht wortwörtlich die Drecksarbeit für Europa“. Medienrecherchen zufolge wird die libysche Küstenwache auch von Frontex oder Malta über Bootsflüchtlinge informiert – eine Form der illegalen Rückführung, genannt Pullback.
Eindrücke aus dem Einsatz 2021
Pourviseh zeigte eine Animation mit Live-Aufnahmen seiner ersten Rettung 2021. Der Kapitän der Sea-Watch 3 folgte der Spur einer Frontex-Drohne – zugleich raste die libysche Küstenwache auf den gleichen Punkt zu. „Der Radar berechnet, dass sie fünf Minuten vor uns da sein wird. Wir fahren trotzdem hin, um zu assistieren.“ Die Menschen sprangen lieber ins Meer, als von den Libyern zurückgebracht zu werden.
Nach einem solchen Einsatz gehe er ins Medienbüro, lade Material hoch, schlafe kurz – um dann gegen vier Uhr zur nächsten Wache aufzustehen. „Und erneut die libysche Küstenwache, diesmal etwas später.“ Entdeckt wurde ein Boot mit 67 Menschen, darunter 23 Minderjährige. „Erst bei der Rettung merken wir, dass viele Kinder schwere Brandverletzungen haben.“ Ein Feuer im Unterdeck war die Ursache. Italien habe erst abends die medizinische Evakuierung erlaubt – wertvolle Stunden seien verstrichen.
„Wann wird das aufhören?“
Tagebucheinträge beschreiben die Gedanken in jener Nacht. „Es ist vier Uhr morgens. Meine Nachtschicht auf dem Bootsdeck beginnt. Und ich frage mich, was wird einmal in den Geschichtsbüchern stehen über das, was hier passiert. Werden sie vom Geruch des Elends erzählen? (…) Wann wird das aufhören?“
Kriminalisierte Gerettete und politischer Missbrauch
Geflüchtete, die Boote oder Autos gesteuert haben, würden oft wie Kriminelle behandelt – obwohl sie von Schleppern dazu gezwungen wurden. In Griechenland etwa bildeten sie die größte Gruppe inhaftierter Menschen. „Es ist eine Kampagne, das Narrativ der Schleuser zu füttern, dass Geflüchtete in Banden organisiert seien“, sagte Pourviseh. „Das ist das, was Griechenland vorgemacht und Italien übernommen hat.“ Und was man seit März als Vorstufe auch an deutschen Grenzen von Innenminister Alexander Dobrindt kenne.
Noël Bosch und Lea Braun
Stimmen der Veranstalter
Daniel Drewes, Leiter des Evangelischen Jugendreferates Köln und Region, freute sich: „Wir konnten mit dieser Veranstaltung das Thema Seenotrettung von einer ganz neuen Seite beleuchten. Adrian Pourviseh hat mit seiner Erzählweise und der Ausdruckskraft seiner Bilder das Publikum gefesselt.“ Für die MAK-Studienleiterin Lea Braun war „die Lesung ein starkes Zeichen dafür, dass wir uns der Realität von Flucht und Seenotrettung nicht entziehen dürfen – und wollen. Der Junge Campus möchte weiterhin Räume für Austausch und Begegnung schaffen.“
Ein bitteres Ende
Mitnichten ein Grund zur Freude ist die im Juni veröffentlichte Entscheidung der Bundesregierung, die zivile Seenotrettung im Mittelmeer künftig nicht länger finanziell zu unterstützen.
Außenansicht des EL-DE-Hauses. Dort hat das NS-DOK seit 1988 seinen Sitz. Foto: Jörn Neumann
Das NS-DOK hat seinen Jahresbericht zu antisemitischen Vorfällen in Köln veröffentlicht. Die Antisemitismus-Meldestelle des Kölner NS-Dokumentationszentrums registrierte im Jahr 2024 insgesamt 229 Vorfälle. Im Vergleich zum Vorjahr stellt das eine Zunahme von 30 Prozent dar. Im kostenfrei downloadbaren Bericht werden viele der registrierten und überprüften Vorfälle beschrieben.
Ins Auge sticht die in der Antisemitismusforschung seit über 15 Jahren festgestellte Formveränderung des Antisemitismus, der sich in der Gegenwart insbesondere als Umwegkommunikation über den Staat Israel äußert. 150 der Fälle werden dem israelbezogenen Antisemitismus zugeordnet. Dass alle Varianten des Antisemitismus letztlich immer eine überaus reale Gefahr für Jüdinnen und Juden – eben auch in Köln – darstellen, wird über den gesamten Bericht hinweg deutlich.
Der Autor des Berichts, Daniel Vymyslicky, äußert diesbezüglich: „Zum vierten Jahr in Folge steigen die von uns dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Stadtgebiet. Eine solche Entwicklung ist nicht mehr mit dem gewachsenen Bekanntheitsgrad der Meldestelle zu erklären. Die jüdische Gemeinschaft in Köln steht massiv unter Druck und braucht mehr Unterstützung.“
Der Leiter der Melanchthon-Akademie, Dr. Martin Bock, betont angesichts der Bedrohungsszenarien, die der Bericht verdeutlicht: „Betroffenen, Kölner Jüdinnen und Juden mit Empathie begegnen, zuhören, Unterstützung anbieten, solidarisch sein – eigentlich sollte das doch ganz normal und einfach sein… Dass sich 80 Jahre nach der Shoah viele Jüdinnen und Juden (auch in Köln) mit antisemitischen Markierungen, Adressierungen und Anfeindungen auseinandersetzen müssen, ist skandalös. Für uns gilt uneingeschränkt, was die Evangelische Kirche in Deutschland formuliert: Der Widerspruch gegen jede Form des Antisemitismus ist nicht nur die Sache einiger weniger, sondern eine Verantwortung aller Christ*innen. Um Menschen darin zu bestärken, Antisemitismus zu erkennen und zu begegnen, gibt es in Köln wertvolle Bildungsangebote der Kölnischen Gesellschaft und des NS-DOK. Und auch wir tragen hier unseren Teil bei: unsere flexibel buchbaren Workshops für Kleingruppen sind dauerhaft kostenfrei verfügbar.
vom 25.11. Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
bis 10.12. Internationaler Tag der Menschenrechte
Hintergrundinformation, Aktualität und Bitte um Dokumentation
Das aktuelle Lagebild des Innenministeriums zu „Häuslicher Gewalt“ zeigt:
„Die Zahl der gemeldeten Fälle von Gewalt ist erneut deutlich gestiegen. 2023 wurden demnach 256.276 Opfer von häuslicher Gewalt erfasst. Das sind 6,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. „Nahezu ein Viertel aller in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Fälle von Gewalt seien Fälle häuslicher Gewalt“, sagte BKA-Vizepräsidentin Link und machte damit das Ausmaß deutlich.
Zwei Drittel der Fälle fallen in den Bereich der Partnerschaftsgewalt, das übrige Drittel betrifft innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder, Eltern oder sonstige Angehörige.
Überwiegend betrifft die Gewalt Frauen: 70,5 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind weiblich, während die Täter zumeist Männer waren (75,6 Prozent).
Auch die Zahl derer steigt, die im Zuge der Gewalt getötet wurden: 331 Menschen sind 2023 durch häusliche Gewalt ums Leben gekommen. Die Opfer waren zu über 80 Prozent weiblich.
Im Bereich der innerfamiliären Gewalt war über die Hälfte der Opfer unter 14 oder über 60 Jahre alt.
Auffallend ist auch ein starker Anstieg von Fällen unter Nutzung des Internet. Hier habe man in den letzten fünf Jahren beispielsweise im Bereich des Stalkings einen Anstieg von 116 Prozent.
Am 29. Juni 2024 verabschiedete die Verbandsvertretung des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region einstimmig die Erklärung ‚Antisemitismus in Köln widersprechen!‘ (https://www.kirche-koeln.de/wp-content/uploads/2024/06/Erklaerung-Antisemitismus-VV-29.6.2024.pdf). Hintergrund war die Veröffentlichung des neuen Jahresberichts der Kölner Meldestelle zu antisemitischen Vorfällen, in dem sich ein deutlicher Anstieg dokumentiert – insbesondere im Nachgang zum terroristischen Überfall der islamistischen HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023. [1] Zitiert wird Bettina Levy, die im Bericht der Meldestelle als Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln auf die überaus realen Bedrohungen von Jüdinnen und Juden in Köln eingeht. In ihrer Erklärung macht die Verbandsvertretung sehr deutlich, dass Derartiges nie akzeptiert werden darf und dass es ein Skandal ist, wenn Jüdinnen und Juden sich fragen müssen, ob sie in Köln noch zuhause sind.
Am Ende der Erklärung steht das Plädoyer, Jüdinnen und Juden ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören, wenn sie von Erfahrungen mit antisemitischer Adressierung, Ausgrenzung und Gewalt berichten, sowie sich solidarisch zu positionieren und Handlungsstrategien gegen Antisemitismus einzuüben. Wie die EKD (2017: 3) (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2017_Antisemitismus_WEB.pdf) betont auch die Verbandsvertretung: „Der Widerspruch gegen Antisemitismus ist nicht nur die Sache einiger weniger, sondern eine Verantwortung aller Christinnen und Christen.“
In diesem kurzen Text wird auf vieles eingegangen, was wichtig ist: Forschungsprojekte zu den Erfahrungen von Jüdinnen (vgl. u.a. Bernstein 2020) machen deutlich, dass Erlebnisse mit Antisemitismus häufig bagatellisiert, relativiert oder ignoriert werden – zuhören, ernst nehmen, empathisch sein: das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein…
Liest man die Erzählungen von Interviewten aufmerksam, wird deutlich, dass das Mit-Erlebtem-alleingelassen-Werden für viele eine äußerst negative Dauer-/Belastung darstellt, die manchmal als schlimmer bewertet wird, als die Antisemitismuserfahrung an sich; dass Freund*innen schweigen, dass Lehrkräfte wegschauen, dass Nachbar*innen so tun, als hätte man nichts gesehen oder gehört. Solidarisch sein, Verantwortung übernehmen, sich zu überlegen, was man in der Situation tun kann: das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein…
7 Tage Leuchten – Unverzagte Frauen Die Pazifistinnen von 1915.
Von Dorothee Schaper
Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag
In Anlehnung an die diesjährige Fastenaktion „Leuchten! 7 Wochen ohne Verzagtheit“, stellen wir in der Karwoche bis Ostern unverzagte Frauen vor. Diese historischen Frauen verbindet ihr Einsatz für den Frieden und die Verbindung dieses Ziels mit der Frauenbewegung.
Wir organisieren uns! 1915 in Den Haag! Wir fordern Frieden!
Beim internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag beschließen wir mit 1136 Frauen aus 12 europäischen Ländern:
Wir Frauen aus vielen Ländern,
zum internationalen Kongresse versammelt, erklären hierdurch über allen Hass und Hader hinaus, der jetzt die Welt erfüllt, uns in der gemeinsamen Lieb zu den Idealen der Gesittung und Kultur verbunden zu fühlen, auch, wo unsere Ziele auseinandergehen.
Wir erklären feierlich,
jeder Neigung zu Feindschaft und Rache zu widerstehen, dagegen alles Mögliche zu tun, um gegenseitiges Verständnis und guten Willen zwischen den Nationen herzustellen und für die Wiederversöhnung der Völker zu wirken.
Wir erklären:
Der Lehrsatz, Kriege seien nicht zu vermeiden, ist sowohl eine Verneinung der Souveränität des Verstandes als ein Verrat der tiefsten Triebe des menschlichen Herzens. Von der innigsten Teilnahme beseelt für die Leidenden, Trostlosen und Unterdrückten, fordern wir, Mitglieder dieses Kongresses, die Frauen aller Nationen feierlichst auf, für ihre eigene Befreiung zu arbeiten und unaufhörlich für einen gerechten und dauernden Frieden zu wirken.
Aletta Henriette Jakobs.
Ich bin Aletta Henriette Jakobs.
Am 9. Februar 1854 werde ich in Sappemeer in eine große jüdische Familie hineingeboren. Ich werde die erste Frau in den Niederlanden, die auf eine weiterführende Schule gehen darf, danach bin ich die erste Studentin in Utrecht und promoviere in Groningen.
Neben meinem Arztberuf wird mir der Kampf für das Frauenwahlrecht und für eine pazifistische Haltung innerhalb der Frauenbewegung wichtig. So ergibt es sich, dass ich zusammen mit Jane Adams den Internationalen Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag vordenke. Gemeinsam fahren wir nach dem Kongress in die USA und haben die Gelegenheit, mit Präsident Wilson sprechen zu können, so wie wir es in Den Haag mit 1136 Frauen aus 12 europäischen Ländern beschlossen haben. Bei den anschließenden Friedensverhandlungen kann man deutlich die Handschrift unseres 20 Punkteplans erkennen.
Rosa Manus
Ich bin Rosa Manus.
Ich werde 1881 in Amsterdam in eine wohlhabende liberale jüdische Familie geboren. „Anständige großbürgerliche Frauen arbeiten nicht für Geld, sondern wirken bei Wohltätigkeitsveranstaltungen mit!“, sagt mein Vater. Das ist hart für mich. Aber ich nutze mein Organisationstalent in der Frauenbewegung. 1913 hänge ich mich mit ganzer Kraft in die Organisation des Internationalen Frauenfriedenskongresses 1915 in Den Haag. Ich bin keine Frontfrau, ich bin gerne Assistentin und Vizepräsidentin. Ich bin nicht die Stimme der Frauenbewegung, aber ich organisiere sie gerne. Außerdem reise ich gerne und bin abenteuerlustig. Bis nach Südamerika, nach Palästina, Syrien und Ägypten schaffe ich es zu kommen – und zwar ohne Mann!
1941 werde ich von den Nazibesetzern in den Niederlanden verhaftet. Sie werfen mir pazifistische und kommunistische Interessen vor…. und dann bin ich auch noch Jüdin! Nach drei Monaten Gefängnis in Scheveningen befinde ich mich auf dem Transport ins Konzentrationslager nach Ravensbrück. Am 29. Mai bringen mich die Nazis um.
Meine lieben Hinterbliebenen haben mir einen Grabstein eingerichtet, obwohl ich ja gar kein eigenes Grab habe. Dort erinnern sie sich an mich. Auf meinem Grabstein steht:
„Rosa Manus hat ihr Organisationstalent und ihre Menschenkenntnis, ihre Energie und ihr Vermögen darauf verwendet, Frauen voranzubringen.“
Sie haben recht! Und ich habe es gerne getan!
Lida Gustava Heymann
Ich bin Lida Gustava Heymann.
Am 15. März 1868 werde ich als dritte Tochter in Hamburg in eine wohlhabende Familie geboren.
1896 fahre ich zum internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen nach Berlin. Das ist ein großartiges Ereignis! So viele interessante Frauen, die alle etwas verändern wollen. Prompt lerne ich Anita Augspurg kennen. Sie ist eine großartige Frau, mit der ich zukünftig mein Leben teilen werde, über 40 Jahre, bis dass der Tod uns scheidet.
1902 gründen wir gemeinsam mit anderen den „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“ und schließen uns 1904 der internationalen Frauenbewegung an. Wir verorten uns in der radikal pazifistischen Gruppe innerhalb der Frauenbewegung. Krieg ist für mich „das größte Verbrechen und der Kulminationspunkt männlicher Raff- und Zerstörungswut!“ Gemeinsam fahren wir 1915 zum Frauenfriedenskongress nach Den Haag. Wir brauchen einen internationalen Ausschuss für einen dauerhaften Frieden!
Ich formuliere im Aufruf für den Kongress in Den Haag: „Frauen Europas, wann erschallt Euer Ruf? Wo bleibt Eure Stimme? Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden? Versucht dem Rad der Zeit menschlich mutig und stark in die Speichen zu greifen!“ Daraufhin steht die Polizei vor unserer Tür und durchsucht unsere Wohnung. Aber das Flugblatt war glücklicherweise schon verschickt und verteilt. Erst 1917 verweisen uns die Bayern wegen “unpatriotischer Umtriebe” des Landes. Wir verlieren alles und leben nun bescheiden in der Schweiz.
Anita Augspurg
Ich bin Anita Augspurg.
Ich werde im September 1857 in Verden an der Aller in eine liberale Familie geboren. Heiraten möchte ich nicht. Das weiß ich schon früh. Deshalb gehe ich so bald wie möglich nach Berlin in das Lehrerinnenseminar. Auf der internationalen Frauenkonferenz in Berlin lerne ich Lida Gustava Heymann kennen, wie großartig! Mit ihr werde ich ab jetzt durch dick und dünn gehen, bis dass der Tod uns scheidet! Gemeinsam eröffnen wir ein Fotoatelier in München. Wir tragen beide einen Kurzhaarschnitt, reiten und fahren Fahrrad. Die Leute gucken hinter uns her, manche werfen uns unerhörtes Auftreten vor, aber das stört uns nicht.
Im Juni 1908 fahren Lida und ich nach London zum Protestmarsch der Suffragetten. Wir ziehen mit 750.000 Frauen für Wahl- und Selbstbestimmungsrecht durch die Straßen Londons und gewinnen Freundinnen in Frankreich, England, Amerika und Ungarn. Das fühlt sich gut an.
1915 fahren wir zusammen nach Den Haag. Der internationale pazifistische Geist der Konferenz bestärkt uns darin, unseren Weg weiterzugehen.
1923 ziehen in München nationalistisch eingestellte marodierende Banden von gewaltbereiten jungen Männern durch die Straßen und stören Versammlungen von fortschrittlichen international eingestellten Vereinen. Sie nennen sich Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei – ein gewisser Adolf Hitler aus Österreich hetzt sie auf. Sie stürmen auch in die Versammlung unserer Frauenliga für Frieden und Freiheit. Wir fordern eine klare Position des Innenministers gegen diese Vorkommnisse der Nationalsozialisten! Wir fordern die Ausweisung dieses Hitlers aus Bayern – aber in Gesprächen mit dem Innenminister lehnt er ab. Seitdem stehen Lida und ich auf der Liquidationsliste der NSDAP.
60 Jahre später erscheint ein Buch über uns: „Die Rebellion ist eine Frau!“ Das ist ein schöner Titel! Sie schreiben, wir wären zwei der mutigsten Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts….Dabei haben wir doch einfach nur getan, was wir tun mussten.
Hedwig Dohm
Ich bin Hedwig Dohm (geb. Schlesinger).
1831 werde ich in Berlin geboren. Ich habe 10 Brüder und sieben Schwestern. Dass meine Brüder bessere Bildungschancen bekommen als wir Schwestern, stört mich noch heute.
Im Alter von 40 Jahren bin ich 18 Jahre mit Ernst Dohm, dem Redakteur des Satiremagazins Kladderadatsch, verheiratet und habe in Berlin vier Kinder großgezogen. Endlich kann ich mich der Frauenfrage widmen.
„Ich bin des Glaubens, dass die eigentliche Geschichte der Menschheit erst beginnt, wenn der letzte Sklave befreit ist, wenn das Privilegium der Männer auf Bildung und Erwerb abgeschafft, wenn die Frauen aufhören, eine unterworfenen Menschenklasse zu sein.“
Die Sklaverei der Schwarzen, der Antisemitismus und die Frauenunterdrückung sind für mich Ausdruck ein und desselben schändlichen Prinzips: der Abwertung des Anderen. So müssen wir das meines Erachtens in Abhängigkeit voneinander begreifen und bekämpfen!
Aber dem gemäßigten Flügel der Frauenbewegung sind meine Ideen viel zu radikal. Ich fühle mich sehr verstanden, als ich in Minna Cauer, Lida Heymann und Anita Augspurg als gleichgesinnte Gesprächspartnerinnen finde, mit denen ich diese weitreichende Analyse teile. Wir gründen den Verband fortschrittlicher Frauenvereine.
1915 fahren meine Schwestern im Geiste nach Den Haag zum Frauenkongress. Am liebsten wäre ich mitgefahren, aber mit 84 Jahren schaffe ich das nicht mehr. Aber bevor ich im Juli 1919 sterben werde, werde ich noch erleben, wie der Rat der Volksbeauftragten im November 1918 das Wahlrecht für Frauen verkündet. Dieser Kampf hat sich gelohnt!
Clara Haber
Ich bin Clara Haber (geb. Immerwahr) aus Breslau.
Es ist der 3. Mai 1915. Gestern Nacht habe ich mich erschossen – im Garten unserer Dienstvilla in Berlin Dahlem. Mein Mann hatte vorher mit seinen Kollegen den Sieg über die Schlacht bei Ypern in unserem Haus gefeiert. Als sie alle weg waren, habe ich meine letzten Briefe geschrieben, die Dienstwaffe meines Mannes genommen, bin in den Garten gegangen und habe mich erschossen.
Ich bin Chemikerin und die erste Frau, die in Deutschland in Chemie promoviert hat. Gemeinsam mit meinem Mann Fritz Haber habe ich an der Herstellung von Ammoniak geforscht. Ich habe gehofft, einen Kunstdünger zu erschaffen, der das Hungerproblem in der Welt löst.
Mein Mann hat weiter geforscht und das Chlorgas entdeckt. Im letzten Herbst hat er sich in die Armee einberufen lassen und seitdem erforscht er den Einsatz von Giftgas für den Krieg. Am 22. April haben sie den ersten Giftgasangriff in Ypern (Belgien) in der Geschichte verübt. Mit 150 Tonnen Chlorgas haben sie über zehntausend Menschen umgebracht: Soldaten und zivile Frauen, Männer und Kinder. Ich kann es nicht fassen, dass er seine Fähigkeiten in den Dienst des Massenmordes stellt! Ich konnte nicht anders als öffentlich zu sagen, dass dieses Unternehmen für mich die Perversion der Wissenschaft und ein Zeichen der Barbarei ist.
Anna Ediger
Ich bin Anna Ediger, geborene Goldschmidt,und wurde 1831 in eine kunstliebende, intellektuelle jüdische Familie in Frankfurt geboren.
Seit 1893 gehöre ich dem Frankfurter Friedensverein an. Ich gehöre zum Bund der deutschen Frauenvereine. Ich war fest entschlossen nach Den Haag zu fahren und das habe ich auch gemacht!
Den Haag war ein großartiges Erlebnis! So viele kluge Frauen aus so vielen verschiedenen Ländern. Diese Verbundenheit und diese Gewissheit, dass Verständigung ohne Gewalt möglich ist – das kann uns keiner mehr nehmen. Ich habe einen Bericht über unseren Kongress geschrieben. Helene Lange vom Bund der deutschen Frauenvereine wollte diesen noch nicht einmal in ihrer Zeitschrift abdrucken! Das kann ich nicht nachvollziehen.
Den Haag hat mich in meiner Auseinandersetzung weitergebracht. Ich halte es jetzt für noch wichtiger, dass wir in wichtigen Fragen nicht im Rahmen einer Nation denken, sondern uns international verständigen. Das ist uns in Den Haag gelungen, während sich die Männer der verschiedenen Nationen in verfeindeten Schützengräben gegenüber lagen und Angst um ihr Leben hatten. Ich bereue nichts.
Vom 28.-30. April 1915 kommen in Den Haag 1136 Frauen aus 12 europäischen Ländern von Schweden bis Ungarn sowie aus den USA und Kanada zusammen. Die meisten Teilnehmerinnen sind Holländerinnen. 180 Pazifistinnen aus England und Irland wurden die Pässe entzogen und somit die Ausreise verweigert. Auch den Französinnen wird die Ausreise verweigert. Aus Deutschland kommen 28 Frauen vom radikalen Flügel der Frauenbewegung. Der nationalgesinnte Flügel der deutschen Frauenbewegung mit Gertrud Bäumer an der Spitze teilt mit, dass „der Besuch des Kongresses den nationalen Verpflichtungen der deutschen Frauen entschieden widerspreche.“
Aus dem Frauenkongress entwickelt sich der internationale Ausschuss für dauernden Frieden, der 1919 in Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, die es bis heute gibt. Jane Adams, die Präsidentin des Kongresses, bekommt 1931 den Friedensnobelpreis verliehen. Ein weiterer internationaler Frauenfriedenskongress wird 1919 in Zürich abgehalten. Nach dem Kongress reisen zwei Delegationen durch Europa und führen dabei Gespräche mit Vertretern von 13 Regierungen.
„Frauen Europas, wann erschallt euer Ruf? Wo bleibt Eure Stimme? Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden? Versucht zum mindestens, dem Rad der Zeit, menschlich mutig und stark würdig eures Geschlechtes in die bluttriefenden Speichen zu greifen!“
Mit diesem flammende Aufruf werden Frauen aller Länder nach Den Haag eingeladen.
Am Ende des Kongresses beschließen die Frauen eine gemeinsame Erklärung, mit der sie sich an die kriegsbeteiligten Regierungen wenden werden. Daraus ein paar Auszüge:
1. PROTEST: Wir protestieren gegen den Wahnsinn und den Gräuel des Krieges, der nutzlos Menschenopfer fordert und vierhundertjährige Kulturarbeit der Menschen zerstört.
2. LEIDEN DER FRAUEN IM KRIEG: Wir protestieren aufs Entschiedenste gegen das furchtbare Unrecht, dem Frauen in Kriegszeiten ausgesetzt sind und besonders gegen die entsetzlichen Vergewaltigungen von Frauen, welches die Begleiterscheinungen eines jeden Krieges sind.
3. FRIEDENSSCHLUSS: Wir Frauen der verschiedensten Nationen, Klassen, Parteien und Glaubensrichtungen sind uns einig im Ausdruck warmen Mitgefühls mit den Leiden Aller, die unter der Last des Krieges leiden.
11. INTERNATIONALE ORGANISATION: Dieser Internationale Frauenkongress fordert die Organisation einer Vereinigung der Nationen auf der Grundlage aufbauenden Friedens gestaltet werde. An dieser Organisation sollen auch Frauen teilnehmen.
15. DIE FRAUEN IN DER POLITIK: Dieser internationale Frauenkongress fordert, dass die Frauen alle bürgerlichen und politischen Rechte und Verantwortungen unter gleichen Bedingungen tragen sollen wie die Männer.
16. DIE KINDERERZIEHUNG : Dieser internationale Frauenkongress betont die Notwendigkeit, die Erziehung der Kinder so zu leiten, dass ihr Denken und Wünschen auf das Ideal aufbauenden Friedens gerichtet wird.
20. DEPUTATIONEN ZU DEN REGIERUNGEN: Um die Regierungen der Welt zu veranlassen, dem Blutvergießen ein Ende machen und einen gerechten und dauerhaften Frieden zu schließen, entsendet dieser Frauenkongress Deputationen, welche die in den Resolutionen niedergelegte Botschaft den Oberhäuptern der kriegführenden und neutralen Staaten Europas und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Nordamerikas überbringen sollen.
Ein Interview mit der Mitgründerin Karin Nell - von Achim Beiermann
Frau Karin Nell ist Diplom-Pädagogin, viele Jahre im Bereich der Erwachsenenbildung tätig, immer mit den Schwerpunkten Quartiersentwicklung, Kultur und neues Freiwilligenengagement. Gemeinsam mit Joachim Ziefle von der Melanchthon-Akademie in Köln hat sie die erste Wohnschule gegründet. Inzwischen ist ein bundesweites Netzwerk von Wohnschulen entstanden. Ich freue mich, dass Frau Nell sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu beantworten.
Frau Nell, im November letzten Jahres wurde auch in Düsseldorf eine Wohnschule auf den Weg gebracht. Träger ist der WQ4-Verein, ein Verein zur Förderung der Quartiersentwicklung. Kooperationspartner sind die Melanchthon-Akademie in Köln und die Zentralbibliothek in Düsseldorf. Bei dem Wort „WohnSCHULE“ schießen mir in Erinnerung an meine eigene Schulzeit nur wenige positive Gedanken durch den Kopf. In meinem schon fortgeschrittenen Alter denke ich da eher: Du liebe Zeit, jetzt noch mal die Schulbank drücken? Also: Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff „Wohnschule Düsseldorf“ und welcher Personenkreis soll sich vorrangig angesprochen fühlen? Ich hoffe, Sie können mich mit Ihrer Antwort wieder beruhigen ;-)!
Karin Nell: Den Namen “Wohnschule” haben die Teilnehmenden einer Fortbildungsreihe ausgewählt. Ursprünglich sollte unser Programm “Wohn-Werkstatt” heißen. In meiner Tätigkeit als Erwachsenenbildnerin ist mir immer wieder aufgefallen, wie wenig Bildungsangebote es zum Thema “Wohnen” gibt, obwohl das Thema alle existenziellen Fragen des Lebens berührt. Und da ich selbst sehr gute Erinnerungen an meine Schulzeit habe, ist es mir nicht schwer gefallen, das Programm “Wohnschule” zu nennen.
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Programm und wie schätzen Sie den Bedarf ein?
Karin Nell: Ich habe beruflich viel mit Menschen aus der Stadtplanung und Stadtverwaltung, der Architektur, der Kunst und der sozialen Arbeit zu tun. In der Zusammenarbeit erlebe ich, wie schwer sich die Verantwortlichen oft tun, wenn es darum geht, Außenstehenden ihre Ideen und Konzepte zu vermitteln. Das liegt meines Erachtens vor allem an den traditionellen Formen zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürger.
Ich sehe ein großes Interesse an der Wohnschule bei Profis und bei Laien.
Augenhöhe und Partizipation sind leichter einzufordern als umzusetzen. Auf Seiten der Bewohnerschaft herrschen oft noch eine übertriebene Ehrfurcht vor den Fachleuten und das Gefühl, nicht genügend von der „Materie“ zu verstehen. Dabei sind es ja gerade die ganz normalen Menschen im Quartier, die mit dem, was da von Fachleuten entschieden wird, leben müssen. Es muss attraktive Angebote geben, damit Menschen in Wohnfragen mitreden, sich selbstbewusst einbringen und mitgestalten können.
Ich sehe da ein großes Interesse an der Wohnschule bei Profis und bei Laien. Es fällt auf, dass sich zunehmend die Generation der Boomer für Veranstaltungen der Wohnschule interessiert.
Co-Housing „Wir vom Gut“, Gut Mydlinghoven in Düsseldorf
Foto: Achim Beiermann
Inwiefern unterscheidet sich das Bildungsprogramm der Wohnschule von diesen Angeboten? Was macht es aus Ihrer Sicht zu etwas Besonderem?
Karin Nell: Mit Blick auf den gesellschaftlichen und demografischen Wandel sowie auf den Klimawandel wird klar, dass man das wichtige Thema „Wohnen“ nicht allein der Wohnungswirtschaft und der Stadtplanung überlassen darf. Von Anfang an stand fest: Unser Programm soll nicht für sondern mit den Bewohnerinnen und Bewohnern entwickelt werden. Es soll informieren, motivieren und aktivieren.
Die Wohnschule bietet auch Exkursionen zu spannenden Wohn-, Nachbarschafts- und Quartiersprojekten an.
Gut angenommen werden die Workshops „Wohn(t)räume im Alter“, „Wohnen mit leichtem Gepäck“, „Die Kunst, alleine zu wohnen“, „Führerschein für Wohnprojekte“ und „Das Quartier als Gemeinschaftsraum“. Die Wohnschule bietet auch Exkursionen zu spannenden Wohn-, Nachbarschafts- und Quartiersprojekten an. Wir besichtigen Tiny-Häuser, Co-Housing-Modelle, zum Beispiel in Düsseldorf und Düren, Beginenhöfe, Pflegeeinrichtungen und vieles mehr.
Welche Themen stehen denn noch so auf dem Programm der Wohnschule?
Karin Nell: Aktuell geht es um bezahlbaren Wohnraum und Lebensstil-Änderung, aber auch um das große Thema „Sorgende Gemeinschaft werden“. Ein Kreativ-Workshop zur „Neuerfindung des Altenheims“ ist geplant und wir arbeiten weiter am Thema „Wohnprojekte im Bestand“.
Neu sind auch die Wunschthemen „Generation Bücherwand“ (das wird ein Kooperationsprojekt mit der Zentralbibliothek in Düsseldorf) und das Thema „Bunte Wohnbiografien“, bei dem es um die Wohnerfahrungen aber auch um die Wohnträume von Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer gehen soll.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”
Karin Nell: Gebet ist für mich eine „Tankstelle“. Ohne Spirit kann man keine zukunftsfähigen Veränderungen hinkriegen. Ich bin ein großer Fan von C. Otto Scharmer. Das ist ein berühmter Organisationsentwickler. Von einem Gastvortrag in der Bochumer Universität habe ich mir einen seiner Sätze besonders zu Herzen genommen: Nachhaltige Veränderung entsteht am Rand und kommt aus der Tiefe.
Ich danke für das Gespräch.
Der Artikel erschien im Original am 3.3.23 auf der Website „Ich bete für dich – Wenn dir das Beten schwer fällt!“: https://ichbetefuerdich.de
Das Interview führte der Verfasser und Betreiber der Website, Achim Beiermann.
Als evangelische Pfarrerin in Köln und langjährige Wegbegleiterin des Moscheebaus an der Venloerstraße möchte ich am Freitag, den 14.10.2022, dabei sein, wenn der Ruf zum Gebet an der Zentralmoschee zum ersten Mal in diesem Rahmen im öffentlichen Raum ausgerufen wird. Wie wird es klingen? Wie wird sich der neue Sound in das Konzert der Klänge von Autolärm, Glockengeläut, Kinderstimmen, Fahrradklingeln etc. an der Venloerstraße einfügen? Wer wird dort sein? Wer wird seine Stimme erheben? Um 13.20h stehe ich an der Moschee.
Schaue ich zur rechten Seite der Straße, sehe ich muslimische Frauen und Männer in Erwartung des Freitagsgebets die Freitreppe zur Moschee hinaufgehen. Ob sie sich freuen, dass ihre Religion in dieser Stadt nicht nur sichtbar, sondern zur Gebetszeit auch hörbar ist? Ob sie sich als Kölner:innen an diesem Tag auch an die verpatzte Eröffnung der Moschee oder an die rechtsgerichteten Proteste gegen die Moschee hier auf der Straße erinnern? Viele von ihnen scheinen mir zu jung für diese Erinnerung.
Schaue ich zur linken Seite der Straße, sehe und höre ich ein Gruppe von Protestierenden: ‚Frauen Leben Freiheit‘ – der Slogan, der in diesen Tagen besonders im Iran, aber auch weltweit in Solidarität mit den Protestierenden im Iran skandiert wird. Frauen mit iranischer Herkunft und solidarische Begleiter:innen haben sich in Position gebracht, um auf den mutigen Kampf der Frauen für Freiheit und Gerechtigkeit im Iran aufmerksam zu machen. Ob sie den Ort ihres Protestes gewählt haben, weil sie wissen, dass viel Presse zugegen sein wird? Oder brauchen sie einfach irgendeinen muslimischen Adressaten für ihre Kritik und da es in Köln nur eine sehr kleine schiitische Moschee gibt, haben sie sich lieber für die sichtbarste und größte Moschee entschlossen?
Ich befinde mich auf dem Bürgersteig im Dazwischen, die Zwischenräume im öffentlichen Raum scheinen besonders geeignet, um die Errungenschaften einer offenen Gesellschaft zu erkunden. In diesem Moment wird der Bürgersteig an der Venloerstraße, an dem ich mich befinde, zu einem besonderem Erfahrungsraum zwischen der Freiheit von Religion bzw. der Trennung von Staat und Religion und der Freiheit zur Religion. Wer wird zu Gehör kommen? Welche Stimmen werden wie laut zu hören sein?
Ich weiß es zu schätzen, dass in diesem säkularen Rechtsstaat die verschiedenen Stimmen, sowohl die religiösen als auch die säkularen, sowohl die Frauen als auch die Männer im öffentlichen Raum gleichberechtigt hörbar sind, ihren Platz haben und staatlicherseits geschützt werden – weltweit leider immer noch nicht selbstverständlich. Ich bin erleichtert, dass am heutigen Tag nicht wie in zurückliegenden Jahren die rechtsradikalen und rechtspopulistischen Gruppen und Parteien das Bild des Protestes bestimmen. Jedenfalls kann ich keine rechten Sprüche hören oder Plakate sehen. Haben wir doch in den vergangenen Jahren zu Genüge gegen dieses Szenario auf der Venloerstraße vor der Moschee für die Moschee gestanden.
…und dann wird es 13.24h – die angekündigte Zeit zum Gebetsruf. Ich stehe direkt vor dem Treppenaufgang zur Moschee und höre ihn leise, den Ezan, den Ruf zum Gebet und das Bekenntnis zu dem einen Gott und Mohamed, seinem Propheten. Er fädelt sich relativ unaufgeregt in die Klangwelt und Geräuschkulisse der Straße ein und ist nach wenigen Minuten wieder verklungen. Man muss bewusst lauschen, um ihn in der Vielstimmigkeit der Straßenecke herauszuhören. Es bestätigt mich in der Einschätzung, dass die Kritik an der Abhängigkeit der DITIB vom türkischen Ministerium für Religionsangelegenheiten einen anderen Anlass und Zeitraum braucht als diese drei Minuten öffentlicher Gebetsruf unter 60 Dezibel. Auf jeden Fall ist der Autolärm und die entschlossenen Rufe der Frauen: ‚Frauen, Leben, Freiheit‘, die die Gewalt und Brutalität der islamischen Republik Iran nicht mehr ertragen, deutlich lauter. Auf den Autolärm und Ressourcenverbrauch, der ihn verursacht, kann unsere Gesellschaft gut und gerne verzichten – auf die Stimmen, die ein deutliches NEIN gegen den Machtmissbrauch durch die Verquickung von Staat und Religion/Ideologie setzen und sich für eine offene, diverse Gesellschaft einsetzen allerdings auf keinen Fall, in diesen Zeiten, in denen demokratische Strukturen von despotischen Kräften und Mächten bedroht werden. Wir brauchen sie alle, die diversen und kontroversen Stimmen, die eine Demokratie stark machen und demokratisches Tun unterstützen.
In diesem Sinne hoffe ich, dass die Polyphonie der Säkularen und Gläubigen, der Einheimischen und Eingewanderten, der Glocken und Gebetsrufer, Kopftuch- und Kippaträger:innen weiterhin sichtbar und hörbar ist und diese Gesellschaft und Stadt mit ihren religiösen und säkularen Räume prägen werden und sich die Bürger:innen unserer Gesellschaft an dieser Vielstimmigkeit erfreuen und in diesen Zeiten für sie wehrhaft einstehen. Dorothee Schaper
Auch die Melanchthon Akademie beteiligte sich im April 2022 an der 20. Flüchtlingspolitischen Tagung des Kölner Flüchtlingsrates, der Caritas und der Stadt Köln.
Einer der Großmeister des politischen Kabaretts gab den Einstieg in die Tagung.
Es sind besondere Zeiten, in denen gute Kabarettisten ernste Reden halten – wir fanden sie so gut, dass wir sie gerne als Zeitansage auf unseren Blog stellen. Wilfried Schmickler hat sie uns freundlicherweise zur freien Verfügung überlassen.
Der 2012 verstorbene amerikanische Theologe Walter Wink hat den Begriff vom „Mythos der erlösenden Gewalt“ geprägt und die biblischen Rede von „Mächten & Gewalten“ genutzt, um heutige Machtstrukturen verstehen und transformieren zu können. Die Quintessenz seiner Forschung ist 2014 auf deutsch unter dem Titel „Verwandlung der Mächte“ erschienen. Mit diesem Buch setzte die breitere Wahrnehmung von Wink in Deutschland ein. In kurzer Zeit ist das Buch zu einem modernen Klassiker der Theologie der Gewaltfreiheit geworden.
Zum zehnten Todestag von Walter Wink spüren wir seiner vielfältigen Wirkungsgeschichte in Deutschland nach und fragen nach ihrem Potential für unsere Theologie und unser Engagement. Dazu haben wir Menschen eingeladen, die berichten, was sie von Walter Wink gelernt haben und wie sein Werk sie geprägt hat. Danach diskutieren wir gemeinsam, welche „Mächte & Gewalten“ heute das Leben bedrohen und wie wir Winks Überlegungen zu einem engagiert-transformativen Zugang zur Bibel nutzen können: um die Mächte mutig zu konfrontieren und letztlich zu ihrer Erlösung beizutragen.
Eine Veranstaltung vom Ökumenischen Institut für Friedenstheologie, dem Internationalen Versöhnungsbund/Deutscher Zweig und der Melanchthon Akademie Köln.
Dr. Peter Aschoff,evangelischer Pfarrer in Nürnberg, langjähriger Leiter der Elia-Gemeinschaft in Erlangen, bloggt auf peregrinatio.net.
Johanna Tschautscher, Schriftstellerin, Regisseurin und Filmemacherin aus Linz/Österreich. 2016 hat sie den Essay-Film „Vom Mythos der erlösenden Gewalt“ veröffentlicht.