Auch die Melanchthon Akademie beteiligte sich im April 2022 an der 20. Flüchtlingspolitischen Tagung des Kölner Flüchtlingsrates, der Caritas und der Stadt Köln.
Einer der Großmeister des politischen Kabaretts gab den Einstieg in die Tagung.
Es sind besondere Zeiten, in denen gute Kabarettisten ernste Reden halten – wir fanden sie so gut, dass wir sie gerne als Zeitansage auf unseren Blog stellen. Wilfried Schmickler hat sie uns freundlicherweise zur freien Verfügung überlassen.
Herzlichen Dank…. Lesen Sie selbst!
Einen schönen guten Morgen, meine Damen und Herren,
ich bin hier der Überraschungs-Gast, muss allerdings gestehen, dass mich eigentlich gar nichts mehr überrascht, außer wie böse die Überraschungen heutzutage sein können.
Aber zum Glück gibt es Menschen wie Sie, die sich seit
Jahren bemühen, den zuweilen doch sehr frustrierenden Kampf gegen das Böse und für das Gute aktiv zu leben und damit diese Welt ein klein wenig besser zu machen.
Dafür meinen ganzen Respekt und aufrichtigen Dank.
Das Motto der heutigen Tagung lautet bekanntlich „Flüchtlingsschutz im Wandel“. Und wenn zurzeit von Flüchtenden die Rede ist, dann geht es natürlich immer zuerst um die Opfer des russischen Vernichtungs-Krieges in der Ukraine.
Und damit wären wir auch schon bei einer wirklich
positiven Überraschung: Die Bereitschaft der Deutschen, Flüchtende aus der Ukraine aufzunehmen, ist wider Erwarten bemerkenswert groß.
In einer Studie des Deutschen Zentrums für Integration
und Migrationsforschung vom März dieses Jahres sprachen sich 94 Prozent der Befragten dafür aus, Schutzsuchende aus der Ukraine aufzunehmen.
Die Solidarität mit den Geflüchteten wird nicht nur
postuliert, sie wird auch ganz konkret gelebt. Die sogenannte Willkommenskultur in Deutschland erlebt eine nie gekannte Blüte. Die Hilfs- und Spendenbereitschaft ist enorm, ein Viertel der Bevölkerung wäre bereit, auch privat Geflüchtete aufzunehmen.
Hieß es bis vor kurzem noch, ein neues 2015 dürfe es
in Deutschland und Europa nie wieder geben, sind aktuell selbst Länder wie Ungarn und Polen bereit, ihre normalerweise fest verschlossenen Grenzen zu öffnen.
Das liegt in erster Linie an der EU-Richtlinie 2001-Strich 55- Strich EG, auch bekannt als „Massenzustrom-Richtlinie“.
Da geht es – Zitat – um „die Mindest-Normen für die
Gewährung vorrübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustromes von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der
Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten.“
Was sich erst einmal anhört wie ein weiteres bürokratisches Monster, mit dem die Europäische-Union die auf ihre Außengrenzen zuströmenden Massen abschrecken will, entpuppt sich in der Realität als wahrer Segen für die Betroffenen.
Denn die Richtlinie 2001-Strich 55-Strich EG sorgt
dafür, dass Schutzsuchende aus einem bestimmten Land unkompliziert Aufenthalts-Titel, Arbeits-Erlaubnis und soziale Absicherung erhalten, sich ihren Aufenthaltsort
in der EU auswählen und somit das Dublin-Verfahren umgehen können.
Die EU hat diese Richtlinie schon am 3.März, also wenige Tage nach dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine, aktiviert.
Ukrainische Staatsbürger*innen können seitdem ohne
Bürokratie in die EU einreisen, bleiben, arbeiten, ihre Kinder in die Schule schicken.
Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich wusste
bis dahin gar nicht, dass es eine solche für die Mitglieds-Staaten der EU verbindliche Richtlinie gab.
Beschlossen wurde sie schon vor zwanzig Jahren, am
31.12.2002, als Antwort der EU auf den Zustrom von Bürgerkriegs-Flüchtlingen während des Jugoslawien-Kriegs von 1991 bis 2001.
Obwohl: war das überhaupt ein richtiger Krieg? Es wird
doch immer wieder gesagt, der Angriff auf die Ukraine sei der erste Krieg auf europäischem Boden seit 1945 – Aber wer will das schon so genau wissen.
Auf jeden Fall ging es damals um die Schaffung von
sozialen Mindest-Standards für schutzbedürftige Personen als da wären: Kein Aufenthalt in Aufnahmestellen oder Flüchtlings-Unterkünften sondern angemessene Unterbringung, ausreichende Mittel für den Lebensunterhalt, Zugang zum Bildungssystem für Minderjährige und selbstverständlich das Anrecht auf Familienzusammenführung.
Genau so muss das sein in einem Europa, das die
christlich- abendländischen Werte als unerschütterliches Fundament seiner Existenz postuliert.
Aber warum blieb diese für die Betroffenen so segensreiche Richtlinie 2001-Strich55-StrichEG im Jahr 2015 in der Schublade, bzw. warum haben die Entscheidungsträger*innen in der EU und die Regierungschefs der Mitgliedsländer diese juristisch präzis vorbereitete Option ihren Bevölkerungen damals aktiv verschwiegen?
Stattdessen wurde nach 2015 an den EU-Außengrenzen
massiv aufgerüstet, und die EU-Grenzschutzbehörde Frontex hat Flüchtende in den Tod getrieben und auf sie geschossen. Die EU hat auf Betreiben Angela Merkels
mit dem Erdogan-Regime einen wahrhaft teuflischen Flüchtlingspakt geschlossen, und das Elend der in Lagern gefangenen Flüchtlinge –wie beispielsweise im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos – wurde als Abschreckung zur Schau gestellt.
Kann es sein, dass dieses Europa, das die Menschenrechte auch damals vor sich hertrug wie das Stinktier das Duftbäumchen, tatsächlich unterscheidet zwischen legitimen Kriegsflüchtenden und solchen, die
ruhig von Bomben zerfetzt werden sollen? Gibt es eine Unterscheidung zwischen guten und bösen Geflüchteten?
Die Neue Züricher Zeitung meldet: „Diesmal sind es
echte Flüchtlinge“ – und legt mit „echte“ nahe, dass die vor Krieg und Elend flüchtenden Menschen aus dem Jahr 2015 dieses Elend nur vorgetäuscht haben.
In der FAZ schwadroniert ein Autor, dass – Zitat – „die
meisten Flüchtlinge, die 2015 über die Türkei gekommen sind, streng genommen Migranten waren.“ Mit anderen Worten: die sind gar nicht in Gefahr gewesen, und wir waren damals nicht streng genug.
In der Sendung Stern TV setzt ein sogenannter Experte
dem Gülle-Fass die Krone auf.
„Die Ukraine ist eine Nation, ein Land, das uns
beeindruckt in diesen Tagen, was fleißig ist, was wissbegierig ist, was neugierig ist, das unsere Werte teilt.
Deswegen ist verständlich, dass die Willkommenskultur
bei uns hier in Deutschland, aber auch in Polen und Ungarn, eine ganz andere ist als bei früheren Flüchtlings-Krisen.“ Denn – so die bayrische Integrationsbeauftragte – „den ukrainischen Flüchtlingen muss nicht erklärt werden, dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf.“
An einem polnisch-ukrainischen Grenzübergang kategorisiert das europäische Grenzregime die Menschen in zwei Gruppen. Alle weißen ukrainischen Staatsbürger*innen dürfen ohne große Nachfragen passieren, Schwarze Menschen oder People of Color werden aufgehalten.
Zehntausende nigerianische, marokkanische oder
indische Bürger*innen, die sich zur falschen Zeit in der Ukraine aufgehalten haben, durften und dürfen sich nicht in Sicherheit bringen.
Kiril Petkow, bulgarischer Außenminister über den
Unterschied zwischen ukrainischen und nichtweißen Flüchtlingen: „Dies sind Europäer. Sie sind intelligent. Dies sind keine Flüchtlinge, wie wir sie in den Wellen zuvor gesehen haben, die Terroristen sein könnten.“
Damit wir uns nicht missverstehen: Selbstverständlich
muss alles Menschenmögliche getan werden, den Millionen von russischen Bomben, Raketen und Granaten terrorisierten Menschen Schutz und Zuflucht zu bieten.
Ohne jedes wenn und aber.
Trotzdem müssen ein paar Fragen erlaubt sein: Warum
zum Beispiel werden Männer zwischen 18 und 60 Jahren seit der General-Mobilmachung daran gehindert, die Ukraine zu verlassen. Kein Staat der Welt hat das Recht einen Menschen gegen seinen Willen zum Soldaten zu machen.
Warum sind die Mitgliedsstaaten der EU nicht bereit,
in den großen und kleinen Flüchtlings-Elends-Lagern dieser Welt für menschenwürdige Verhältnisse zu sorgen? Wenn schon nicht in der g a n z e n Welt, dann wenigstens auf ihrem Territorium. In Griechenland, Italien, in den Ländern der ehemaligen Balkan-Route und anderswo
Sind die Menschen, die aus Syrien fliehen vor einem
Krieg, der ohne massive russische Militär-Hilfe gar nicht möglich wäre, nicht auch Opfer des Despoten Putin?
Was machen eigentlich die sogenannten Ortskräfte der
Deutschen in Afghanistan, denen von der Bundesregierung ein schnelles und unbürokratisches Asylverfahren versprochen wurde?
Wie kann es sein, dass der Stadt Berlin vom Bundes-Innenministerium untersagt wurde, 300 besonders schutzbedürftige Minderjährige aus dem Horror-Lager Moria aufzunehmen?
Und apropos Horror-Lager: wenn interessieren überhaupt noch die Zustände in Dadaab, in Kutupalong, in Rafah, in Zaatari, in Kakuma…?
Und was sind die 9,15 Milliarden Dollar Jahres-Budget des UNHCR gegen die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr?
Um es noch einmal zu sagen: natürlich ist die Hilfe
für die Flüchtenden aus der Ukraine das Gebot der Stunde. Aber wir müssen alles tun, dass dieses Gebot der Stunde nicht auch irgendwann versinkt Strom des
Vergessens.
Dafür braucht es Menschen wie Sie, meine Damen und
Herren. Menschen für die das Recht auf ein friedliches, menschenwürdiges Leben unteilbar ist.
Menschen, die sich engagieren für eine Welt, die bestimmt wird von Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität.
Von Vernunft, Respekt und friedlichem Miteinander
statt von Willkür, Hass und Terror.
Dafür lohnt es, sich zu engagieren. Nicht destruktiv
und verbittert, sondern konstruktiv und zuversichtlich.
In diesem Sinne: bleiben Sie edel, bleiben Sie
hilfreich, bleiben Sie gut.
Ich danke Ihnen.