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Heimkehr – eine biografisch-theologische Annäherung an Franz Kafkas Erzählung „Heimkehr“. Von Martin Bock

Anm.: Dieser Beitrag von Dr. Martin Bock erscheint im Dezember 2024 in der Zeitschrift „Kirche und Israel“ 40 (2024), 167-175.

1. Generation Z: „Ich bin Gregor Samsa“

Wenige Tage vor Kafkas 100. Todestag am 3. Juni dieses Jahres erscheint in einer Beilage des Kölner Stadtanzeigers[1] ein spannender Artikel, der den Bezug und die Begeisterung der gegenwärtigen jungen „Generation Z“ (die zwischen 1995 und 2010 Geborenen) für das Werk von Franz Kafka in den Fokus stellt: Von dieser Generation werde Kafka „auf Tiktok und Co. gefeiert“, er sei dort ein „Star. Nicht nur seine Briefe werden geteilt, auch seine literarischen Werke lesen und zitieren die 14- bis 29Jährigen“ und setzen sie in einen intensiven Bezug zu ihrer Gegenwart. Es seien vor allem zwei Motive, so der Autor mit Bezug auf den Literaturwissenschaftler Nils Penke, die diese Generation so berührbar macht für Kafkas Texte: zunächst die besondere Bedeutung des Schreibens als Wirklichkeitshorizont, bei der „die Wirklichkeit modelliert und mobilisiert“ werden, Sprache und sinnliche Wirklichkeit aber zugleich in Differenz treten. Diese berühre die Erfahrung jugendlicher Erwachsener in den sozialen Netzwerken, sich in einer fragilen Intimität zu befinden und zu bewegen. Das Schreiben, das Bezug-, Wahr-, Kontakt- und Distanznehmen auf den und die Andere durch das Schreiben sei eine Erfahrung, in der sich die Generation Z in Kafkas Texten wider-spiegele und sie in eigenen, durchaus flüssigen ‚sozialen Medien‘ und Texten auch perpetuiere. Damit verbinde sich die massive Erfahrung von Verlassen- und Einsamkeit, die besonders jene Generation in den vergangenen Jahren, zum Beispiel durch die Corona-Pandemie, erleiden musste und die ein Tiktok-User mit Bezug auf Kafkas Text ‚Die Verwandlung‘ in folgenden Post fasst: „Zu wissen, dass die ‚Verwandlung‘ eine Metapher für diejenigen ist, die die Hoffnung und den Willen zum Leben verloren haben und von Menschen verlassen wurden, weil sie einfach nutzlos zurückblieben und das wahre Gesicht unserer Gesellschaft zeigen, ist sehr traurig“.

Als Vater zweier junger Erwachsener, die in der Tat in den vergangenen Jahren mit ihrer ganzen Generation massiv und immer wieder (Corona, Klimakrise, Zunahme von Einsamkeit) in ihrem Lebensfluss unterbrochen und irritiert werden, berührt mich diese Horizontverschmelzung und die Bedeutung, die Kafkas Texte aus einem schon-Geschriebensein in die Zukunft treiben.

[1] Kristian Teetz, Generation Kafka, Kölner Stadtanzeiger vom 1. Juni 2024.

 

2. Generation Y: „Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf“ (Ez 18,3).

„Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren, Josefine aber, erlöst von der irdischen Plage, die aber ihrer Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder.“[1] Als ich beginne, diesen Artikel zu schreiben, stoße ich auf die im Internet nicht verlorengegangene Traueranzeige meines Essen-Werdener Deutsch- und Geschichtslehrers Klaus Bergmann (1935-2018). Sie ist mit dem Ende der Erzählung „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ überschrieben, Kafkas letzter Erzählung aus dem Frühjahr 1924. Sofort wird mir wieder klar: Ohne meinen Lehrer und seine Leidenschaft für Franz Kafkas Texte wäre mein Leben anders verlaufen. Es war wohl eine produktive Überforderung, uns schon früh mit vielen Kurzgeschichten und Parabeln Kafkas in Berührung zu bringen, nach kurzer Zeit den „Prozess“ und das „Schloss“ lesen zu lassen, mit seinem Deutsch- und Musik-Leistungskurs 1984 10 Tage in Prag zu verbringen – um meine eigene schulische Kafka-Auseinandersetzung im mündlichen Abitur in eine Interpretation der Erzählung „Heimkehr“[2] münden zu lassen. Meiner Generation, also jenen Jugendlichen, die als junge Gymnasiasten 1978 den Film „Holocaust“ entweder selbst sehen oder aber die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leid des jüdischen Volkes in diesem Kontext mit Furcht und Schrecken rezipierten, die ihren Eltern eine Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen und politischen Verantwortung abringen  – und die auch wahrnehmen, dass die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen und der Geschichte des Antisemitismus auch das Christentum, in dem ich zarte Wurzeln geschlagen hatte, tiefgreifend betreffen. Die religiöse „Verzauberung der Welt“[3], das spürte ich, war ohne eine Auseinandersetzung mit der theologischen Erschütterung, die der Nationalsozialismus für die Grundfesten des christlichen Glaubens bedeutet, nicht mehr möglich. Für einen Jugendlichen der 80er Jahre, für den die religiös-romantische Sehnsucht nach den kulturellen Quellen des „Alles wird gut“-Gefühls zum Coming-of-Age gehörte, war dies keine geringe Herausforderung.  Umso mehr bin ich dankbar, dass dieser Lehrer aus den Gesprächen und aus seinem enormen Interesse für jeden einzelne Schüler:in spürte, wie sehr uns insbesondere vor diesem generationellen Hintergrund das Judentum als Religion, Kultur und auch als notwendiger Kontext für Kafkas Biografie und literarisches Schaffen interessierte, neugierig machte und uns lockte, ‚hinter die Kulissen‘ der Geschichte und der Textwelten dieser Religion, ihrer Verknüpfungen mit dem Christentum, aber auch in die abgründige Geschichte der Verachtung des Judentums zu schauen.

Seitdem kehre ich als Mensch, als Theologe, als Vater, immer wieder zu und in den Text ‚Heimkehr‘ zurück und entdecke Zwischentöne der textlichen Berührung Kafkas mit dem Zurückgelassenen des ‚alten Hofes‘.

[1] Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, in: Franz Kafka. Erzählungen, in: Franz Kafka. Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, 200-216, hier: 216.
[2] Die Überschrift „Heimkehr“ ist offenbar von Max Brod dem Text zugeschrieben worden. So Bertram Rohde, „und blätterte ein wenig in der Bibel“. Studien zu Franz Kafkas Bibellektüre und ihren Auswirkungen auf sein Werk, Würzburg 2002, 141.
[3] Vgl. Jörg Lauter, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014.

3. Erlittene Nähe wie Fremdheit – eine Annäherung an die Erzählung ‚Heimkehr‘

Durch ein kurzes Bad in der schier endlosen Sekundärliteratur nehme ich wahr, wie eng manche Auslegungen die Verzahnung von „Heimkehr“ mit dem neutestamentlichen Gleichnis vom ‚verlorenen Sohn‘ im Lukasevangelium (15, 11-32) anlegen[1] – begründet u.a. damit, dass Kafka diesen biblischen Text explizit durch einen Mit-Kurgast im Naturheilsanatorium 1912 vermittelt bzw. ans Herz gelegt bekommen habe[2], aber auch durch die text-motivische Auseinandersetzung mit dem „‘Urverhältnis zwischen Vater und Sohn“, das bei Kafka „zerschlagen“ werde, da es „zu keiner eigentlichen Heimkehr mehr“ komme.[3]

Ich bin nicht sicher, ob es dem Verstehen der Parabel Kafkas wirklich dient, diese mit einem weiteren, gewissermaßen unsichtbaren Text, regelrecht zu vergleichen und dazu noch einer historisch-biografischen Situation zuzuordnen. Vielleicht schärfen jedoch diejenigen Motive aus der Erzählung „Heimkehr“ die den (christlichen) Lesenden auch aus jener neutestamentlichen Erzählung ‚bekannt vorkommen‘ und die zugleich in Kafkas Text ganz eigenständig entwickelt sind, den Blick auf dessen Proprium. Deshalb schauen wir zunächst auf die Erzählung selbst.[4]

„Heimkehr“ ist vollständig aus einer Ich-Perspektive erzählt. Die Erzählung nimmt die Lesenden mit in eine Rückkehr in „meines Vaters alten Hof“. Er nimmt an der Beobachtung teil, die der Ich-Erzähler, der „den Flur durchschritten hat“, aus der Mitte des Hofes, den Blick schweifen lassend, vollzieht. Schritt für Schritt lässt er ihn teilhaben an der sinnlichen Erfahrung, die die Rückkehr für den Ich-Erzähler bedeutet. Es ist wirklich eine sinnliche Erfahrung, die wir in ihren verschiedenen Stufen, Tiefen, Dimensionen und ihrer emotionalen Qualität mitvollziehen: eine Rückkehr an einen Ort mit seinem ‚Inventar‘; eine Rückkehr zu Menschen, in Beziehungen hinein, die der Ich-Erzähler verlassen hat und in deren Erfahrungsraum er durch seine Rückkehr wieder vorstößt. Wir erfahren, dass die vollzogene Rückkehr zu dem Ort, zu des „Vaters Haus“ die zweite Frage „Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche?“ anstößt. Die Beobachtung des Ich-Erzählers richtet sich nun auf das, was er als Spuren von den Menschen, deren Empfang er imaginiert, wahrnimmt: wärmender Rauch aus dem Schornstein, „der Kaffee zum Abendessen wird gekocht“. Was der Erzähler sieht und riecht, führt den Angekommenen aber nun nicht dazu, sich den Menschen an diesem Ort zuzuwenden, sich ihnen zu zeigen, also auch für die Anderen anzukommen. Das Gegenteil ist der Fall: Die sinnlichen Eindrücke drängen ihn zurück in die innere Reflexion, in die Unsicherheit. „Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause?“ Die empfundene Unsicherheit, ob seine Rückkehr wirklich eine Ankunft werden kann,  drängt sich nun auch in die Wahrnehmung des Ortes hinein: „Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück …“. Das Gefühl des Wieder-Erkennens von Haus und Menschen weicht der Entfremdung, ja kehrt sich sogar ins Gegenteil: Die Bedeutung der „Stücke“ sind dem Erzähler überhaupt nicht bekannt, teils hat er sie „vergessen“. Das Gefühl, auch den Menschen, die an „seines Vaters Haus“ leben, nichts nützen zu können, ja ihnen überhaupt nichts (mehr) zu sein, also gewissermaßen den Familien- und Sohnes-‚Status‘ verloren zu haben, ist stärkster Ausdruck dieser enttäuschter und vielleicht in diesem Augenblick gescheiterten Rückkehr. Die Bewegung hin zum und das Durchschreiten des väterlichen Hofes mündet nun einer inneren Erstarrung. Intendierte Bewegungen, die die Distanz überwinden können, wie ein Klopfen an die Küchentür, sind ihm nicht (mehr) möglich.

Der sinnliche Kontakt zu Hof und Menschen beschränkt sich nun auf ein Horchen „von der Ferne“. Diese Ferne, diametral dem ursprünglichen Stehen in der Mitte des Hofes gegenübergestellt, bringt es mit sich, dass ‚objektiv‘ „nichts“ zu hören ist. Wenn er dennoch etwas wahrnimmt, verschwimmt der sinnliche Eindruck mit der Erinnerung „aus den Kindertagen“. In der Gegenwart des Zurückgekehrten bestimmt hingegen Distanz zwischen Erzähler und den Anderen das Geschehen. Sie hat das Warten und Erwarten abgelöst. Geht jene Distanz und Fremdheit allein vom Erzähler aus oder besteht sie tatsächlich auch bei den „dort Sitzenden“, die ihre Gegenwart, ihre Verbundenheit mit Ort und Menschen vor ihm „wahren“?

Die beiden letzten Sätze der Erzählung resümieren die Erfahrung desjenigen, der zurückgekehrt „ist“. Er verlässt den aufgesuchten Ort nicht wieder, kehrt nicht wiederum zurück, aber verbleibt im Zögern „vor der Tür“. Auf Dauer? Noch einmal erscheinen die, die sich hinter jener Tür aufhalten. Es ist das erste Mal, in der sich die Anderen auf ihn zubewegen, indem sie die Tür öffnen und ihn ansprechen – könnten. Aus dem Zurückgekehrt-Sein, aus dem Aufsuchen des Ortes und seinen Lebens- und Begegnungsmöglichkeiten ist ein ferner Möglichkeitsmodus geworden. Und doch hat dieser Modus seine Würde. Denn die, die hier leben und ihn, der zurückgekehrt ist, verbindet die Dimension des „Geheimnisses“. Dieses Geheimnis lässt sich durch das Öffnen einer Tür und wohl auch nicht durch Frage und Antwort, durch keinen Empfang durchbrechen. Es bleibt nur ‚gewahrt‘, wenn die Heimkehr sich so vollzieht, wie der Erzähler sie berichtet, nämlich in tiefster Individualität und Einsamkeit, zugleich aber auch in der phänomenologisch-sinnlichen Erfahrung eines Ortes und seiner Menschen, zu dem und zu denen ich tatsächlich zurückkehre – in erlittener Nähe wie Fremdheit.

[1] Vgl. Rohde, a.a.O., 141ff.
[2] Franz Kafka, Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcom Passey, Frankfurt a. M. 1982,  1046.
[3] So Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt a. M 1964, 62ff. Eine tiefangelegte motivische Untersuchung der Erzählung in ihrem Verhältnis zum biblischen Gleichnis findet sich bei Rohde, a.a.O., 141ff.
[4] Zitiert nach: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. von Max Raabe, Frankfurt a.M., 320f.

4. „Es ist heut keiner, der nicht entfremdet ist“ (F. Rosenzweig). Christlich-jüdisches Lernen auf dem Weg einer zweiten Naivität

Wenn Kafka seine Erzählung ‚Heimkehr‘ auch in Kenntnis und als Leser der neutestamentlichen Erzählung vom ‚verlorenen Sohn‘ zu Papier bringt – oder aber zumindest wir als Lesende diese Rezeptions-Brücke herstellen – dann gelingt es ihm, ein ‚weißes Feuer‘ zwischen den Buchstaben zum Leuchten zu bringen, das meine eigene (christliche) Verstehens-Perspektive dieses Textes sehr bereichert:

‚Heimkehr‘ lässt mich teilhaben an der Rückkehr eines erwachsenen Menschen in ‚meines Vaters alten Hof‘. Sie ist getränkt von der Erfahrung der Wieder-Begegnung mit Zurückgelassenem, mit Verlassenem. Die zurückliegenden Erfahrungen, die zur Trennung, zum Aufbruch, zum Verlassen, führten, werden in ‚Heimkehr‘ nicht thematisiert. Die Erzählung beginnt mit der vollzogenen Heimkehr – die nicht zu einer Aufhebung von Schmerz und Ambivalenz, nicht zur ‚Versöhnung‘ mit Vater und Geschwistern führt, sondern zu Erfahrungen, die neue Zerrissenheit, Sehnsucht und Ferne mit sich bringen, aber auch die Akzeptanz jener Ferne und des Geheimnisses zwischen Menschen, das nicht anders erzählbar ist als durch die Text und Schrift werdende Berührung mit dem Versuch, dem Entschluss zur Heimkehr. Dass er nicht zu einem Ziel, sondern zu einer Möglichkeit, und sei es einer zögerlichen, führt, vollzieht der Lesende mit.

Sind diese Leseerfahrungen nicht hilfreich, um biblische Erzählungen wie zum Beispiel die vom ‚verlorenen Sohn‘ aus der Entweder-Oder-Logik des Gelingens respektive Erfülltwerdens bzw. des Scheiterns herauszuführen? Auch in Luk 15, 11ff. bleibt erstaunlich offen, ob die durch die Rückkehr des jüngeren Sohnes neue Familienkonstellation glücken kann. Wird es den ‚Eltern‘ gelingen, die Lebenserfahrungen des fern-nahen Sohnes, seine offensichtliche Traumatisierung in der Ferne (Luk 15, 14-17), und die des zu Hause Gebliebenen zusammenzuhalten? Die biblische Erzählung beantwortet diese Frage über den Appell des Vaters hinausgehend (v. 24) nicht – die jüdisch-christliche Geschichte von Synagoge und Kirche, die zur Rezeptionsgeschichte der Bibel gehört, jedoch erzählt auf ihre Weise, wie die beiden „Erbteile“ von Judentum und Christentum gegeneinander ausgespielt werden und zu einer Ferne und Fremdheit führten und noch führen. Dass die Entfremdungsgeschichten beider Religionen, der christliche und rassische Antisemitismus der Neuzeit, die Assimilisierungsbestrebungen der jüdischen Minderheiten etc. weitere Prozesse mit sich bringt, die es schwer und kompliziert machten, Zugehörigkeit zu empfinden, hat Franz Kafka im deutschsprachigen Judentum im tschechisch-christlichen Prag und auch in der eigenen familiären Situation zutiefst erfahren.[1]

In Kafkas erzählerischer Bewegung[2] von ‚Heimkehr‘ finde ich einen ‚Mut zur Zögerlichkeit‘, der nicht nur der Lektüre und Auslegung biblischer Texte wie der vom ‚Verlorenen Sohn‘ guttut. Der Berliner Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt weist entgegen einer immer wieder drohenden Privatisierung der Auslegung von Lukas 15, 11ff. darauf hin, dass es in dieser Erzählung auch um die „großen Verheißungen Gottes an die Menschen“[3] geht. Sie spiegeln sich in jenem Umgang mit dem „Erbe“, das in der biblischen Erzählung auf zwei Brüder verteilt wird. Der jüngere Bruder, in seinem nachvollziehbaren ‚Zwang‘, aufzubrechen und das Erbe als Jüngerer pekuniär anzutreten, beschleunigt die Zeit und „will sich selbst die Verheißung erfüllen, die ihm versprochen ist. … Mit solchen Forderungen gebärden wir Christen von heute uns wild und ungeduldig, sind zappelig und können nicht mehr abwarten, dass Gottes Leben sich erfüllt und sich in uns vollendet“. Der andere Bruder „hat dazu eine andere innere Einstellung. Bis die Verheißung sich erfüllt, lebt und arbeitet er aus der Verheißung. Er dient um ihre Erfüllung lange, lange Jahre, wie Jakob um Rahel, bleibt zielgerichtet, bleibt zwar zuhause, hält fest an der Tradition des Vaters, aber er bleibt offen nach vorne.“[4]

Als theo-logische Mitte der Erzählung macht Marquardt jedoch den Maqom, also Gott selbst als ‚Ort der Welt‘ aus: Die Geschichte von den beiden ein- und auskehrenden Söhnen zielt auf den freude-taumelnden, seligen Maqom, den Gott mit sich und für andere aus-füllen will und: „Er ist das Wesen, das den Sündern entgegenstürmt, das alles und alle zum Tanzen bringt; er ist es, der zum Fest rüstet und ersetzt, was wir verschleudern und verspielen.“ Die Heimkehr ist zuallererst „Gottes Antwort auf sich selbst. Er erfüllt sich seine Sehnsucht nach uns.“[5] Erzählbar wird diese theo-logische Mitte angesichts der zappelnden und ungeduldigen versus im Modus der Möglichkeit lebenden Geschwister nur als eine U-Topie. Der „Ort“, der Menschen als Geschöpfen Gott bereit- und offensteht, ist in der Wirklichkeit der Welt-Orte umstritten, verloren, umkämpft, zerrissen und verlassen. „Es kann dazu kommen, dass nicht Eden die Utopie ist, sondern der Ort ‚jenseits von Eden‘“[6].

Spricht nicht auch Kafkas Text ‚Heimkehr‘, der so zentral um den Ort des ‚alten Hofes‘ herum platziert und erzählt ist, in diese Zerrissenheit des Ortes ‚jenseits von Eden‘ hinein, der nur in einer Ambivalenz von Nähe und Ferne, von Trennung und erneuter Bewegung, anwesend ist? Zu Recht macht Karl Josef Kuschel darauf aufmerksam, dass Kafka, sofern er sich in seinem literarischen und auch autobiografischen Werk überhaupt auf biblische Texte bezieht, angezogen wird von Themen, die mit der „Vertreibung aus dem Paradies, Sündenfall, nicht aber Exodus, Prophetie und Erlösung“[7] verbunden sind. „Nur das Alte Testament sieht – nichts noch darüber zu sagen“, notiert Kafka einmal in seinem Tagebuch.[8] Dieses, biblische Texte aufgreifende und von Kafka selbst fortgeschriebene ‚Sehen‘ hat jedoch nicht nur einen „quälenden Aufklärungsprozess über sich selbst“[9] zum Gegenstand.

Kafka kommt, unter anderem durch Vorträge Martin Bubers in Prag (1909-1910), durch seine Begegnung mit der ostjüdischen Theatertruppe unter Leitung von Jizchak Löwy, seine Annäherung an die jiddische Sprache, an den Zionismus, mit einem Strom jüdischer Erneuerung und Hermeneutik in Berührung, wie ihn Franz Rosenzweig, Martin Bubers engster theologischer Partner, in seiner Rede zur Eröffnung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt 1920 programmatisch so zum Ausdruck bringt: „Es ist heut keiner, der nicht entfremdet ist.“ Deshalb brauche es ein „Lernen in umgekehrte Richtung. … Ein Lernen, zu dem am befähigsten heute der ist, der – am meisten Fremdes mitbringt. Also gerade nicht der jüdische Fachmann. Jedenfalls der jüdische Fachmann nicht als Fachmann, sondern auch er nur soweit er Entfremdeter ist, soweit er Heimsuchender, Heimkehrender ist.“[10] Für dieses neue Denken und Lernen, so drückt es Rosenzweig an anderer Stelle aus, braucht es – Zeit. „Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.“[11]

Ernst Simon, Schüler von Franz Rosenzweig und Martin Buber, hat die Haltung dieses nicht absichtsvollen, sondern den Lebenserfahrungen des Erwachsenen folgenden und sie begleitenden Lernens als eine solche der ‚zweiten Naivität‘ bezeichnet. „Die Einfalt der Kindheit ist eine »immerwährende Vergangenheit« (Franz Rosenzweig), die sich bei der Geburt eines jeden Kindes täglich erneuert; die zweite Naivität hegt stets in der Zukunft, aber die ihr teilhaftig Gewordenen leben schon gegenwärtig in ihrer Atmosphäre, nicht immer, aber immer wieder.“[12]

In meiner rheinischen Heimat nicht weit von Köln lebe ich in der Nähe zweier Landsynagogen – Titz-Rödingen und Pulheim-Stommeln – , die heute auf unterschiedliche Weise Kultur- und Gedenkorte jüdischen Lebens sind. Die Landsynagoge in Rödingen erzählt die Geschichte ihrer jüdischen Stifterfamilie im 19. Jahrhundert, ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus und des erzwungenen Verlassens ihres Lebensortes. Das „Kunstprojekt Synagoge Stommeln“ erzählt davon, wie nach der Wieder-Entdeckung dieses Ortes in den 1990er Jahren Kunstprojekte internationaler Künstlerinnen und Künstler immer aufs Neue zur Auseinandersetzung mit jüdischem Leben in der Diaspora, seinen kulturellen Veränderungen, den antisemitischen Bedrohungen und seiner bleibenden Gegenwart einladen und ein intensives Spannungsfeld zwischen Raum, Besuchenden und Umgebung aufbauen.

Jedes Mal, wenn ich einen dieser beiden Orte allein oder mit Lerngruppen besuche, begleitet mich dabei in Gedanken auch Franz Kafkas Text „Heimkehr“. Mit den Nuancen, mit der Neugier einer ‚zweiten Naivität‘, erfüllt sowohl vom Schrecken des alten und neuen Antisemitismus in unseren Biografien und unserer Zeitgenossenschaft, erfüllt aber auch von den Lernerfahrungen mit jüdischem Leben, ihrer Literatur, Philosophie und Schriftgelehrsamkeit erfahre ich, was Rosenzweig in seiner Rede zum Ausdruck brachte: „Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.“

Für diese ekstatische wie vulnerable Erfahrung bin ich zutiefst dankbar.

[1] Karl Josel Kuschel zitiert aus Kafkas Tagebuchaufzeichnungen: „Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden“, in: Karl Josef Kuschel, Auf dem Seil. Franz Kafka, Stuttgart 2024, 58 (57-65).
[2] Kafkas Tagebucheintragung (siehe Anmerkung 4) geht so weiter: „… Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration“: a.a.O., 58.
[3] Friedrich-Wilhelm Marquardt, Lasset uns mit Jesus ziehen. Dahlemer Predigten und Texte über die Wege Jesu, hg. von Michael Weinrich, Neuendettelsau 2004, 150f.
[4] A.a.O, 150.
[5]  A.a.O., 151.
[6] F.W. Marquardt, Eia, wärn wir da. …, 65.
[7] Kuschel, a.a.O., 101.
[8] Bei Kuschel, a.a.O., 106.
[9] A.a.O., 104.
[10] , 97.
[11] Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, in: Ders., Kleinere Schriften., 373-398, hier: 386f.
[12] Ernst Simon, Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, S. 273-279, hier: 278.

Semestereröffnung „Buch und Brot & Kartäuserhöfe – Klänge im Zwischenraum“

Am 3. Sept. 24 gaben wir Ihnen die Gelegenheit, zum Semesterauftakt einige der versteckten Innenhöfe des historischen Kartäusergeländes zu erkunden und dabei in die Welt der Literatur einzutauchen. In der malerischen Umgebung der Kölner Südstadt präsentierten die Studienleiter:innen der Akademie eine Auswahl ihrer Lieblingsbücher und kündigten dazu passende Veranstaltungen im neuen Semester an. Eine Bildauswahl der Reise durch Literatur und Raumerkundung dieses wunderbaren Tages finden Sie hier.

Die stimmungsvollen Höfe des Kartäusergeländes boten den idealen Rahmen, sich von den vorgestellten Texten inspirieren zu lassen und in den Zwischenräumen des Alltags neue Klänge zu entdecken.
So widmete Antje Rinecker sich in ihrer Buchvorstellung „Der Tod des Ketzers“ von Peter Tremayne der atemberaubenden Natur Irlands, der ebenso erstaunlichen Kultur und Spiritualität des Landes im 6. Jahrhundert – und der Lösung eines Kriminalfalls.
In Lea Brauns Buchvorstellung „Zeit der Verluste“ von Daniel Schreiber ging es um die Auseinandersetzung und den Umgang mit Verlust in der Unbeständigkeit der Welt und die private und gesellschaftliche Fähigkeit zu trauern.
Martin Bock thematisierte mit seiner Vorstellung von Immanuel Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ die Modernität Kants, der als (gelegentlicher) Billardspieler und „Gottesdienstmeider“ trotzdem um die „Heiligkeit“, also die absolute Verbindlichkeit von Geboten und Menschenrechten, wusste. Kant war strikt der Meinung, dass die überkommenen Konfessionen sich auflösen sollten, weil sie bloß einen menschlichen ‚Standpunkt‘ tragen

Dorothee Schaper brachte uns mit ihrem Buch „Trotzdem Sprechen“ von Lena Gorelik und anderen die These „Trotzdem Sprechen ist die greifbarste Utopie dieser Tage“ näher und den Versuch, in polarisierten und aufgeheizten Zeiten, in denen uns oft die Worte fehlen, am gemeinsamen Gespräch festzuhalten.
Stefan Hößl beschäftigte sich in seiner Buchvorstellung „Desert Insurgency: Archaeology, T. E. Lawrence, and the Arab Revolt“ von Nicholas J. Saunders mit der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich vor etwa hundert Jahren, die die Entstehung nationalstaatlicher Strukturen auf der arabischen Halbinsel maßgeblich beeinflusst haben und so den Urgrund auch heute noch aktiver Konflikte in der Region bilden.
Auch Lena Feldes Buch „Nachleben“ von Abdulrazak Gurnah führte in die Zeit des 1. Weltkriegs, allerdings auf einen anderen Kontinent: In diesem Beitrag zur postkolonialen Literatur wird ein Ausschnitt der Geschichte der Afrikanischen Kolonialisierung in afrikanischer Erzähltradition und aus afrikanischer Perspektive beschrieben.

Im Anschluss gab es wie immer noch ein geselliges Brot zum Buche.

Wir haben an dem Abend viele Anregungen  und Inspirationen aus guten Büchern erhalten. Diese Erfahrung möchten wir auch anderen Menschen in diesem Fall Kindern und Jugendlichen im Iran ermöglichen. Deshalb möchten wir Ihnen das Projekt ‚lies mit mir‘ ans Herz legen.
Eine Initiative von iranischen Frauen, die hochwertige und phantasievolle Kinderbücher iranischen Kindern besonders in entlegenen Dörfern  in Bücherkoffern und kleinen Bibliotheken zu Verfügung stellen und selber vorlesen.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie als Würdigung unseres Brot und Buch-Abends diese Initiative mit einer Spende unterstützen. Auf dem Flyer finden Sie weitere Informationen zum Projekt und Unterstützungsmöglichkeiten.

Vielen Dank im Voraus.

Wer noch mehr über Geschichten des Kartäusergeländes und seinem  Umfeld erfahren möchte, ist am 8.9. um 16h herzlich eingeladen, die Geschichte von Pfarrer Georg Fritze und Familie Heymann auf dem Gelände zu erkunden. Herzlich willkommen. Weitere Informationen hier.

Der SINN des Lebens

Der Künstler und Philosoph Martin Dressel hatte sich am 17.September 2023 in Köln-Nippes beim Tag des Guten Lebens mit über 260 Aktionen von und für Bürgerinnen und Bürger auf den Weg gemacht: Im Kontext unseres Seminars „Urbane Interventionen“ hat er – gemäß der Devise „Die Philosophie geht auf die Straße“ – den Passant:innen – im Sinne der urbanen Intervention – folgende Frage gestellt:

Was denken Sie ist der Sinn des Lebens?

Daraus entstanden ist eine spannende Zusammenstellung an Ideen, die wir hier gerne veröffentlichen möchten. Zum Schluss hat sich Martin Dressel auch selber noch ein paar Gedanken zum Thema gemacht…

Von Joachim Ziefle

Zum Wochenende 5. – 7. Mai 2023 war die TKO Roma Art Academy e. V. zu Gast in der Melanchthon-Akademie. Mit Workshops, Vorträgen, einem Konzert und einer Podiumsdiskussion luden die Veranstalter dazu ein, mehr von der Kunst und Kultur der Roma zu erfahren und zu erleben. Junge Menschen aus der Roma-Community haben an den Theaterworkshops teilgenommen, eine interessierte breite Öffentlichkeit folgte den Diskussionen und Vorträgen. Vortragende, Künstler und Workshopleitende stammen aus Mazedonien, Kroatien, Rumänien und Deutschland.

Ziel des Projektwochenendes war und ist es, einen grundlegenden Perspektivenwechsel in der deutschen Gesellschaft einzufordern – wenn es um die Community der Roma geht – und eine verbesserte gesellschaftliche Teilhabe für die größte Minderheit Europas anzumahnen.

Mit folgendem Link können Sie in einer Zusammenfassung der Deutschen Welle Fernsehen die besondere Stimmung des Wochenendes  „die Macht der Roma Künste“ erspüren – auch wenn der Bericht nicht in deutscher Sprache erscheint.

Hier gehts weiter zum Video

UNVERZAGT!

7 Tage Leuchten – Unverzagte Frauen
Die Pazifistinnen von 1915.

Von Dorothee Schaper

Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag

In Anlehnung an die diesjährige Fastenaktion „Leuchten! 7 Wochen ohne Verzagtheit“, stellen wir in der Karwoche bis Ostern unverzagte Frauen vor. Diese historischen Frauen verbindet ihr Einsatz für den Frieden und die Verbindung dieses Ziels mit der Frauenbewegung.

 

Wir organisieren uns! 1915 in Den Haag! Wir fordern Frieden!

Beim internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag beschließen wir mit 1136 Frauen aus 12 europäischen Ländern:

Wir Frauen aus vielen Ländern,

zum internationalen Kongresse versammelt, erklären hierdurch über allen Hass und Hader hinaus, der jetzt die Welt erfüllt, uns in der gemeinsamen Lieb zu den Idealen der Gesittung und Kultur verbunden zu fühlen, auch, wo unsere Ziele auseinandergehen.

Wir erklären feierlich,

jeder Neigung zu Feindschaft und Rache zu widerstehen, dagegen alles Mögliche zu tun, um gegenseitiges Verständnis und guten Willen zwischen den Nationen herzustellen und für die Wiederversöhnung der Völker zu wirken.

Wir erklären:

Der Lehrsatz, Kriege seien nicht zu vermeiden, ist sowohl eine Verneinung der Souveränität des Verstandes als ein Verrat der tiefsten Triebe des menschlichen Herzens. Von der innigsten Teilnahme beseelt für die Leidenden, Trostlosen und Unterdrückten, fordern wir, Mitglieder dieses Kongresses, die Frauen aller Nationen feierlichst auf, für ihre eigene Befreiung zu arbeiten und unaufhörlich für einen gerechten und dauernden Frieden zu wirken.

 

Aletta Henriette Jakobs.

Ich bin Aletta Henriette Jakobs.

Am 9. Februar 1854 werde ich in Sappemeer in eine große jüdische Familie hineingeboren. Ich werde die erste Frau in den Niederlanden, die auf eine weiterführende Schule gehen darf, danach bin ich die erste Studentin in Utrecht und promoviere in Groningen.

Neben meinem Arztberuf wird mir der Kampf für das Frauenwahlrecht und für eine pazifistische Haltung innerhalb der Frauenbewegung wichtig. So ergibt es sich, dass ich zusammen mit Jane Adams den Internationalen Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag vordenke. Gemeinsam fahren wir nach dem Kongress in die USA und haben die Gelegenheit, mit Präsident Wilson sprechen zu können, so wie wir es in Den Haag mit 1136 Frauen aus 12 europäischen Ländern beschlossen haben. Bei den anschließenden Friedensverhandlungen kann man deutlich die Handschrift unseres 20 Punkteplans erkennen.

 

Rosa Manus

Ich bin Rosa Manus.

Ich werde 1881 in Amsterdam in eine wohlhabende liberale jüdische Familie geboren. „Anständige großbürgerliche Frauen arbeiten nicht für Geld, sondern wirken bei Wohltätigkeitsveranstaltungen mit!“, sagt mein Vater. Das ist hart für mich. Aber ich nutze mein Organisationstalent in der Frauenbewegung. 1913 hänge ich mich mit ganzer Kraft in die Organisation des Internationalen Frauenfriedenskongresses 1915 in Den Haag. Ich bin keine Frontfrau, ich bin gerne Assistentin und Vizepräsidentin. Ich bin nicht die Stimme der Frauenbewegung, aber ich organisiere sie gerne. Außerdem reise ich gerne und bin abenteuerlustig. Bis nach Südamerika, nach Palästina, Syrien und Ägypten schaffe ich es zu kommen – und zwar ohne Mann!

1941 werde ich von den Nazibesetzern in den Niederlanden verhaftet. Sie werfen mir pazifistische und kommunistische Interessen vor…. und dann bin ich auch noch Jüdin! Nach drei Monaten Gefängnis in Scheveningen befinde ich mich auf dem Transport ins Konzentrationslager nach Ravensbrück. Am 29. Mai bringen mich die Nazis um.

Meine lieben Hinterbliebenen haben mir einen Grabstein eingerichtet, obwohl ich ja gar kein eigenes Grab habe. Dort erinnern sie sich an mich. Auf meinem Grabstein steht:

„Rosa Manus hat ihr Organisationstalent und ihre Menschenkenntnis, ihre Energie und ihr Vermögen darauf verwendet, Frauen voranzubringen.“

Sie haben recht! Und ich habe es gerne getan!

 

Lida Gustava Heymann

Ich bin Lida Gustava Heymann.

Am 15. März 1868 werde ich als dritte Tochter in Hamburg in eine wohlhabende Familie geboren.

1896 fahre ich zum internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen nach Berlin. Das ist ein großartiges Ereignis! So viele interessante Frauen, die alle etwas verändern wollen. Prompt lerne ich Anita Augspurg kennen. Sie ist eine großartige Frau, mit der ich zukünftig mein Leben teilen werde, über 40 Jahre, bis dass der Tod uns scheidet.

1902 gründen wir gemeinsam mit anderen den „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“ und schließen uns 1904 der internationalen Frauenbewegung an. Wir verorten uns in der radikal pazifistischen Gruppe innerhalb der Frauenbewegung. Krieg ist für mich „das größte Verbrechen und der Kulminationspunkt männlicher Raff- und Zerstörungswut!“ Gemeinsam fahren wir 1915 zum Frauenfriedenskongress nach Den Haag. Wir brauchen einen internationalen Ausschuss für einen dauerhaften Frieden!

Ich formuliere im Aufruf für den Kongress in Den Haag: „Frauen Europas, wann erschallt Euer Ruf? Wo bleibt Eure Stimme? Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden? Versucht dem Rad der Zeit menschlich mutig und stark in die Speichen zu greifen!“ Daraufhin steht die Polizei vor unserer Tür und durchsucht unsere Wohnung. Aber das Flugblatt war glücklicherweise schon verschickt und verteilt. Erst 1917 verweisen uns die Bayern wegen “unpatriotischer Umtriebe” des Landes. Wir verlieren alles und leben nun bescheiden in der Schweiz.

 

Anita Augspurg

Ich bin Anita Augspurg. 

Ich werde im September 1857 in Verden an der Aller in eine liberale Familie geboren. Heiraten möchte ich nicht. Das weiß ich schon früh. Deshalb gehe ich so bald wie möglich nach Berlin in das Lehrerinnenseminar. Auf der internationalen Frauenkonferenz in Berlin lerne ich Lida Gustava Heymann kennen, wie großartig! Mit ihr werde ich ab jetzt durch dick und dünn gehen, bis dass der Tod uns scheidet! Gemeinsam eröffnen wir ein Fotoatelier in München. Wir tragen beide einen Kurzhaarschnitt, reiten und fahren Fahrrad. Die Leute gucken hinter uns her, manche werfen uns unerhörtes Auftreten vor, aber das stört uns nicht.

Im Juni 1908 fahren Lida und ich nach London zum Protestmarsch der Suffragetten. Wir ziehen mit 750.000 Frauen für Wahl- und Selbstbestimmungsrecht durch die Straßen Londons und gewinnen Freundinnen in Frankreich, England, Amerika und Ungarn. Das fühlt sich gut an.

1915 fahren wir zusammen nach Den Haag. Der internationale pazifistische Geist der Konferenz bestärkt uns darin, unseren Weg weiterzugehen.

1923 ziehen in München nationalistisch eingestellte marodierende Banden von gewaltbereiten jungen Männern durch die Straßen und stören Versammlungen von fortschrittlichen international eingestellten Vereinen. Sie nennen sich Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei – ein gewisser Adolf Hitler aus Österreich hetzt sie auf. Sie stürmen auch in die Versammlung unserer Frauenliga für Frieden und Freiheit. Wir fordern eine klare Position des Innenministers gegen diese Vorkommnisse der Nationalsozialisten! Wir fordern die Ausweisung dieses Hitlers aus Bayern – aber in Gesprächen mit dem Innenminister lehnt er ab. Seitdem stehen Lida und ich auf der Liquidationsliste der NSDAP.

60 Jahre später erscheint ein Buch über uns: „Die Rebellion ist eine Frau!“ Das ist ein schöner Titel! Sie schreiben, wir wären zwei der mutigsten Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts….Dabei haben wir doch einfach nur getan, was wir tun mussten.

 

Hedwig Dohm

Ich bin Hedwig Dohm (geb. Schlesinger).

1831 werde ich in Berlin geboren. Ich habe 10 Brüder und sieben Schwestern. Dass meine Brüder bessere Bildungschancen bekommen als wir Schwestern, stört mich noch heute.

Im Alter von 40 Jahren bin ich 18 Jahre mit Ernst Dohm, dem Redakteur des Satiremagazins Kladderadatsch, verheiratet und habe in Berlin vier Kinder großgezogen. Endlich kann ich mich der Frauenfrage widmen.

„Ich bin des Glaubens, dass die eigentliche Geschichte der Menschheit erst beginnt, wenn der letzte Sklave befreit ist, wenn das Privilegium der Männer auf Bildung und Erwerb abgeschafft, wenn die Frauen aufhören, eine unterworfenen Menschenklasse zu sein.“

Die Sklaverei der Schwarzen, der Antisemitismus und die Frauenunterdrückung sind für mich Ausdruck ein und desselben schändlichen Prinzips: der Abwertung des Anderen. So müssen wir das meines Erachtens in Abhängigkeit voneinander begreifen und bekämpfen!

Aber dem gemäßigten Flügel der Frauenbewegung sind meine Ideen viel zu radikal. Ich fühle mich sehr verstanden, als ich in Minna Cauer, Lida Heymann und Anita Augspurg als gleichgesinnte Gesprächspartnerinnen finde, mit denen ich diese weitreichende Analyse teile. Wir gründen den Verband fortschrittlicher Frauenvereine.

1915 fahren meine Schwestern im Geiste nach Den Haag zum Frauenkongress. Am liebsten wäre ich mitgefahren, aber mit 84 Jahren schaffe ich das nicht mehr. Aber bevor ich im Juli 1919 sterben werde, werde ich noch erleben, wie der Rat der Volksbeauftragten im November 1918 das Wahlrecht für Frauen verkündet. Dieser Kampf hat sich gelohnt!

 

Clara Haber

Ich bin Clara Haber (geb. Immerwahr) aus Breslau.

Es ist der 3. Mai 1915. Gestern Nacht habe ich mich erschossen – im Garten unserer Dienstvilla in Berlin Dahlem. Mein Mann hatte vorher mit seinen Kollegen den Sieg über die Schlacht bei Ypern in unserem Haus gefeiert. Als sie alle weg waren, habe ich meine letzten Briefe geschrieben, die Dienstwaffe meines Mannes genommen, bin in den Garten gegangen und habe mich erschossen.

Ich bin Chemikerin und die erste Frau, die in Deutschland in Chemie promoviert hat. Gemeinsam mit meinem Mann Fritz Haber habe ich an der Herstellung von Ammoniak geforscht. Ich habe gehofft, einen Kunstdünger zu erschaffen, der das Hungerproblem in der Welt löst.

Mein Mann hat weiter geforscht und das Chlorgas entdeckt. Im letzten Herbst hat er sich in die Armee einberufen lassen und seitdem erforscht er den Einsatz von Giftgas für den Krieg. Am 22. April haben sie den ersten Giftgasangriff in Ypern (Belgien) in der Geschichte verübt. Mit 150 Tonnen Chlorgas haben sie über zehntausend Menschen umgebracht: Soldaten und zivile Frauen, Männer und Kinder. Ich kann es nicht fassen, dass er seine Fähigkeiten in den Dienst des Massenmordes stellt! Ich konnte nicht anders als öffentlich zu sagen, dass dieses Unternehmen für mich die Perversion der Wissenschaft und ein Zeichen der Barbarei ist.

 

Anna Ediger

Ich bin Anna Ediger, geborene Goldschmidt, und wurde 1831 in eine kunstliebende, intellektuelle jüdische Familie in Frankfurt geboren.

Seit 1893 gehöre ich dem Frankfurter Friedensverein an. Ich gehöre zum Bund der deutschen Frauenvereine. Ich war fest entschlossen nach Den Haag zu fahren und das habe ich auch gemacht!

Den Haag war ein großartiges Erlebnis! So viele kluge Frauen aus so vielen verschiedenen Ländern. Diese Verbundenheit und diese Gewissheit, dass Verständigung ohne Gewalt möglich ist – das kann uns keiner mehr nehmen. Ich habe einen Bericht über unseren Kongress geschrieben. Helene Lange vom Bund der deutschen Frauenvereine wollte diesen noch nicht einmal in ihrer Zeitschrift abdrucken! Das kann ich nicht nachvollziehen.

Den Haag hat mich in meiner Auseinandersetzung weitergebracht. Ich halte es jetzt für noch wichtiger, dass wir in wichtigen Fragen nicht im Rahmen einer Nation denken, sondern uns international verständigen. Das ist uns in Den Haag gelungen, während sich die Männer der verschiedenen Nationen in verfeindeten Schützengräben gegenüber lagen und Angst um ihr Leben hatten. Ich bereue nichts.

 

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Info zum Frauenfriedenskongress 1915

Vom 28.-30. April 1915 kommen in Den Haag 1136 Frauen aus 12 europäischen Ländern von Schweden bis Ungarn sowie aus den USA und Kanada zusammen. Die meisten Teilnehmerinnen sind Holländerinnen. 180 Pazifistinnen aus England und Irland wurden die Pässe entzogen und somit die Ausreise verweigert. Auch den Französinnen wird die Ausreise verweigert. Aus Deutschland kommen 28 Frauen vom radikalen Flügel der Frauenbewegung. Der nationalgesinnte Flügel der deutschen Frauenbewegung mit Gertrud Bäumer an der Spitze teilt mit, dass „der Besuch des Kongresses den nationalen Verpflichtungen der deutschen Frauen entschieden widerspreche.“

Aus dem Frauenkongress entwickelt sich der internationale Ausschuss für dauernden Frieden, der 1919 in Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, die es bis heute gibt. Jane Adams, die Präsidentin des Kongresses, bekommt 1931 den Friedensnobelpreis verliehen. Ein weiterer internationaler Frauenfriedenskongress wird 1919 in Zürich abgehalten. Nach dem Kongress reisen zwei Delegationen durch Europa und führen dabei Gespräche mit Vertretern von 13 Regierungen.

„Frauen Europas, wann erschallt euer Ruf? Wo bleibt Eure Stimme? Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden? Versucht zum mindestens, dem Rad der Zeit, menschlich mutig und stark würdig eures Geschlechtes in die bluttriefenden Speichen zu greifen!“

Mit diesem flammende Aufruf werden Frauen aller Länder nach Den Haag eingeladen.

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Am Ende des Kongresses beschließen die Frauen eine gemeinsame Erklärung, mit der sie sich an die kriegsbeteiligten Regierungen wenden werden. Daraus ein paar Auszüge:

1. PROTEST: Wir protestieren gegen den Wahnsinn und den Gräuel des Krieges, der nutzlos Menschenopfer fordert und vierhundertjährige Kulturarbeit der Menschen zerstört.

2. LEIDEN DER FRAUEN IM KRIEG: Wir protestieren aufs Entschiedenste gegen das furchtbare Unrecht, dem Frauen in Kriegszeiten ausgesetzt sind und besonders gegen die entsetzlichen Vergewaltigungen von Frauen, welches die Begleiterscheinungen eines jeden Krieges sind.

3. FRIEDENSSCHLUSS: Wir Frauen der verschiedensten Nationen, Klassen, Parteien und Glaubensrichtungen sind uns einig im Ausdruck warmen Mitgefühls mit den Leiden Aller, die unter der Last des Krieges leiden.

11. INTERNATIONALE ORGANISATION: Dieser Internationale Frauenkongress fordert die Organisation einer Vereinigung der Nationen auf der Grundlage aufbauenden Friedens gestaltet werde. An dieser Organisation sollen auch Frauen teilnehmen.

15. DIE FRAUEN IN DER POLITIK: Dieser internationale Frauenkongress fordert, dass die Frauen alle bürgerlichen und politischen Rechte und Verantwortungen unter gleichen Bedingungen tragen sollen wie die Männer.

16. DIE KINDERERZIEHUNG : Dieser internationale Frauenkongress betont die Notwendigkeit, die Erziehung der Kinder so zu leiten, dass ihr Denken und Wünschen auf das Ideal aufbauenden Friedens gerichtet wird.

20. DEPUTATIONEN ZU DEN REGIERUNGEN: Um die Regierungen der Welt zu veranlassen, dem Blutvergießen ein Ende machen und einen gerechten und dauerhaften Frieden zu schließen, entsendet dieser Frauenkongress Deputationen, welche die in den Resolutionen niedergelegte Botschaft den Oberhäuptern der kriegführenden und neutralen Staaten Europas und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Nordamerikas überbringen sollen.

 

 

 

Wohnschule für ALTERnative Wohnkonzepte

Ein Interview mit der Mitgründerin Karin Nell - von Achim Beiermann

Frau Karin Nell ist Diplom-Pädagogin, viele Jahre im Bereich der Erwachsenenbildung tätig, immer mit den Schwerpunkten Quartiersentwicklung, Kultur und neues Freiwilligenengagement.  Gemeinsam mit Joachim Ziefle von der Melanchthon-Akademie in Köln hat sie die erste Wohnschule gegründet. Inzwischen ist ein bundesweites Netzwerk von Wohnschulen entstanden. Ich freue mich, dass Frau Nell sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu beantworten.

Frau Nell, im November letzten Jahres wurde auch in Düsseldorf eine Wohnschule auf den Weg gebracht. Träger ist  der WQ4-Verein, ein Verein zur Förderung der Quartiersentwicklung. Kooperationspartner sind die Melanchthon-Akademie in Köln und die Zentralbibliothek in Düsseldorf. Bei dem Wort „WohnSCHULE“ schießen mir in Erinnerung an meine eigene Schulzeit nur wenige positive Gedanken durch den Kopf. In meinem schon fortgeschrittenen Alter denke ich da eher: Du liebe Zeit, jetzt noch mal die Schulbank drücken? Also: Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff „Wohnschule Düsseldorf“ und welcher Personenkreis soll sich vorrangig angesprochen fühlen? Ich hoffe, Sie können mich mit Ihrer Antwort wieder beruhigen ;-)!

Karin Nell: Den Namen “Wohnschule” haben die Teilnehmenden einer Fortbildungsreihe ausgewählt. Ursprünglich sollte unser Programm “Wohn-Werkstatt” heißen. In meiner Tätigkeit als Erwachsenenbildnerin ist mir immer wieder aufgefallen, wie wenig Bildungsangebote es zum Thema “Wohnen” gibt, obwohl das Thema alle existenziellen Fragen des Lebens berührt. Und da ich selbst sehr gute Erinnerungen an meine Schulzeit habe, ist es mir nicht schwer gefallen, das Programm  “Wohnschule” zu nennen.

Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Programm und wie schätzen Sie den Bedarf ein?

Karin Nell: Ich habe beruflich viel mit Menschen aus der Stadtplanung und Stadtverwaltung, der Architektur, der Kunst und der sozialen Arbeit zu tun. In der Zusammenarbeit erlebe ich, wie schwer sich die Verantwortlichen oft tun, wenn es darum geht, Außenstehenden ihre Ideen und Konzepte zu vermitteln. Das liegt meines Erachtens vor allem an den traditionellen Formen zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürger.

Ich sehe ein großes Interesse an der Wohnschule bei Profis und bei Laien.

Augenhöhe und Partizipation sind leichter einzufordern als umzusetzen. Auf Seiten der Bewohnerschaft herrschen oft noch eine übertriebene Ehrfurcht vor den Fachleuten und das Gefühl, nicht genügend von der „Materie“ zu verstehen. Dabei sind es ja gerade die ganz normalen Menschen im Quartier, die mit dem, was da von Fachleuten entschieden wird, leben müssen. Es muss attraktive Angebote geben, damit Menschen in Wohnfragen mitreden, sich selbstbewusst  einbringen und mitgestalten können. 

Ich sehe da ein großes Interesse an der Wohnschule bei Profis und bei Laien. Es fällt auf, dass sich zunehmend die Generation der Boomer für Veranstaltungen der Wohnschule interessiert. 

Co-Housing „Wir vom Gut“, Gut Mydlinghoven in Düsseldorf Foto: Achim Beiermann

Inwiefern unterscheidet sich das Bildungsprogramm der Wohnschule von diesen Angeboten? Was macht es aus Ihrer Sicht zu etwas Besonderem?

Karin Nell: Mit Blick auf den gesellschaftlichen und demografischen Wandel sowie auf den Klimawandel wird klar, dass man das wichtige Thema „Wohnen“ nicht allein der Wohnungswirtschaft und der Stadtplanung überlassen darf. Von Anfang an stand fest:  Unser Programm soll nicht für sondern mit den Bewohnerinnen und Bewohnern entwickelt werden. Es soll informieren, motivieren und aktivieren.

Die Wohnschule bietet auch Exkursionen zu spannenden Wohn-, Nachbarschafts- und Quartiersprojekten an.

Gut angenommen werden die Workshops „Wohn(t)räume im Alter“, „Wohnen mit leichtem Gepäck“, „Die Kunst, alleine zu wohnen“, „Führerschein für Wohnprojekte“ und „Das Quartier als Gemeinschaftsraum“. Die Wohnschule bietet auch Exkursionen zu spannenden Wohn-, Nachbarschafts- und Quartiersprojekten an. Wir besichtigen Tiny-Häuser, Co-Housing-Modelle, zum Beispiel in Düsseldorf und Düren, Beginenhöfe, Pflegeeinrichtungen und vieles mehr. 

Welche Themen stehen denn noch so auf dem Programm der Wohnschule?

Karin Nell: Aktuell geht es um bezahlbaren Wohnraum und Lebensstil-Änderung, aber auch um das große Thema „Sorgende Gemeinschaft werden“. Ein Kreativ-Workshop zur „Neuerfindung des Altenheims“ ist geplant und wir arbeiten weiter am Thema „Wohnprojekte im Bestand“. 

Neu sind auch die Wunschthemen „Generation Bücherwand“ (das wird ein Kooperationsprojekt mit der Zentralbibliothek in Düsseldorf) und das Thema „Bunte Wohnbiografien“, bei dem es um die Wohnerfahrungen aber auch um die Wohnträume von Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer gehen soll.

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”

Karin Nell: Gebet ist für mich eine „Tankstelle“. Ohne Spirit kann man keine zukunftsfähigen Veränderungen hinkriegen. Ich bin ein großer Fan von C. Otto Scharmer. Das ist ein berühmter Organisationsentwickler. Von einem Gastvortrag in der Bochumer Universität habe ich mir einen seiner Sätze besonders zu Herzen genommen: Nachhaltige Veränderung entsteht am Rand und kommt aus der Tiefe.

Ich danke für das Gespräch.

Der Artikel erschien im Original am 3.3.23 auf der Website „Ich bete für dich – Wenn dir das Beten schwer fällt!“: https://ichbetefuerdich.de

Das Interview führte der Verfasser und Betreiber der Website, Achim Beiermann.

Unser neues Veranstaltungsmagazin

Nicht neu, aber anders

Wir haben umgebaut!

Ab dem 10. Januar 2023 halten Sie das neue Veranstaltungsmagazin der Melanchthon-Akademie 1/23 in den Händen, das Sie auf unserer Homepage bestimmt schon gesehen haben und hier nun zum Download verfügbar gemacht wird.

Es ist deutlich schlanker, deutlich größer geworden. Es ist weiterhin Programmheft. Und mehr. Mehr Platz bekommen in diesem und in den folgenden Heften Geschichten, die unsere Studienleitenden und Dozent:innen erzählen: über Engagement, ihr Kunstschaffen, über Online-Kongresse, über Themen, die bewegen.

Uns ist zunehmend wichtig, dass Sie mehr davon erfahren, was uns als Studienleitende und unsere Dozent:innen thematisch umtreibt, wo wir hinwollen, aber auch, welche spannenden Menschen in der Melanchthon-Akademie bei Veranstaltungen auf Sie warten. Deshalb finden Sie in unserem Magazin weiterhin wichtige Informationen zu den Veranstaltungen aus allen gewohnten Fachbereichen. Wir nehmen uns dabei Zeit und Platz für einzelne Projekte, andere führt das Heft nur kurz auf.

Wir möchten Ihr Interesse wecken und Sie einladen, sich ausführlicher und intensiver mit allen Veranstaltungen auf unserer
Homepage www.melanchthon-akademie.de zu informieren und sich regelmäßig mit dem Newsletter der Akademie auf dem Laufenden zu halten.

Was haben wir uns dabei gedacht?

Ein Interview mit Martin Bock

Warum haben Sie sich für ein DINA4-Printformat entschieden?

Mit dem neuen Programm möchten wir deutlich machen, dass es „mehr als ein Programm“ ist. Ein „Veranstaltungsmagazin“, wie wir es nennen, braucht mehr Luft. Und es soll deutlich dünner werden, das ist auch gelungen. Gut 60 statt 200 Seiten im alten Format.

In diesem Magazin, das weiterhin halbjährlich erscheint, präsentieren wir weiterhin die Highlights aus jedem Fachbereich – das sind je 20-25 Veranstaltungen. Diese kündigen wir mit Titel, Termin und Referent*in an, manches priorisieren wir mit Bild und mehr Informationen. Grundprinzip ist aber, dass wir alle unsere Nutzer*innen schneller auf die Webseite „locken“ wollen. Dort finden sich alle ausführlichen Seminar- und Veranstaltungsinformationen, die vorher im alten Heft waren. Um den Weg dorthin zu finden, gibt es ab Anfang Januar auf der Webseite der Akademie einen sog. Quickfinder. Ich gebe den Doz*Namen, die Seminarnummer oder ein Stichwort ein und lande ganz schnell bei der Veranstaltung. Über das Netz kann ich mich dann auch sofort anmelden.

Das „Magazin“ kommt darin zum Ausdruck, dass jeder Fachbereich außer den Veranstaltungsankündigungen noch eine Doppelseite Platz für Besonderes hat: In der Theologie erzählen wir von einer Israel-Wanderreise im Herbst und von Kirchenpädagogik-Langzeitfortbildungen; in der politischen Bildung von „Aktien für Menschenrechte und Klimaschutz“, im Programmbereich „Spiritualität“ erzählt Martin Horstmann von der „Church oft he Wild“ als Liturgie, die mitten in der Natur stattfindet. Außerdem gibt es übergreifende Themen, für die wir jetzt Platz haben: die evangelische Radiowerkstatt, ökumenische Friedenstheologie, Gewaltfreie Kommunikation, unserem Engagement gegen sexualisierte Gewalt und anderem.

 

Was gefällt Ihnen besonders an den neuen Inhalten bzw. dem Magazinformat?

Dass man nicht mehr von ‚zu viel‘ erschlagen wird. Wir haben von Teilnehmenden öfters die Rückmeldung bekommen: Euer Programm ist super, aber wir sind geradezu überfordert von den vielen Angeboten. Das ist jetzt deutlich dosierter und fokussierter. Ich glaube, dies wird helfen, sich zu orientieren und für die eigene Auswahl von Veranstaltungen einen Weg zu finden. Außerdem hoffen wir sehr, auch neue Menschen zu gewinnen, die die Akademie noch nicht oder nur oberflächlich kennen. Mit dem neuen Magazin versteht man und frau, mit welcher Botschaft wir als evangelische Stadtakademie auf Menschen in Stadt und Region zugehen.

Für diesen Weg aus der ‚Überforderung‘, für das ‚Weniger ist mehr‘ sind wir der Agentur „Gute Botschafter“, mit der wir zusammengearbeitet haben, sehr dankbar!

 

Welcher Mehrwert erwartet die Nutzer off- und online?

Menschen lernen und verstehen hoffentlich mit diesem Heft klarer und fokussierter, in welche Richtung sich kirchliche Bildungsarbeit für Erwachsene verändert und weiter verändern wird: Als Melanchthon-Akademie sind wir nah dran am gesellschaftlichen Engagement von Menschen, an Themen, die viele umtreiben: Klima, Nachhaltigkeit, Frieden, Worklife-Balance, Spiritualität, Rassismus. sexualisierte Gewalt. Wir arbeiten mit Kirchengemeinden wie mit zivilgesellschaftlichen Initiativen in der Region zusammen.

Das „Kirchliche“, das „Evangelische“ und „Ökumenische“ daran ist zum Beispiel, die geistliche Dimension unserer Lebensentwicklung als Erwachsene deutlich zu benennen, unsere Verbundenheit als Menschen mit den anderen Geschöpfen Gottes zu suchen, Körper und Seele gemeinsam zu stärken und auf kreative Weise dazu Lust zu machen, die Bibel als Lebensorientierung ernst zu nehmen.

Mit dem neuen Magazin lernt man hoffentlich auch: Hinter diesem Programm stehen Menschen: unsere vielen Dozent*innen, deren Gesicht und Schaffen wir herausstellen; wir als Studienleitende in der Akademie, die immer auf der Suche nach Themen sind, die Menschen in der Breite der Gesellschaft bewegen können.

 

Hoffen Sie, mit dem neuen Programm auch neue Zielgruppen zu erreichen?

Auf jeden Fall. Das neue Magazin wird in den Gemeinden und an vielen Kultur-Orten in der Stadt ausliegen und hoffentlich Neugier wecken. Zudem ist der Weg „vom Print zum Netz“, den wir mit dem Magazin einschlagen, derjenige, der sich als Informationsweg und -Quelle immer weiter durchsetzen wird. Deshalb werden wir auch unsere Newsletter-Kultur und das zielgruppenorientierte Mailing an unsere Teilnehmenden weiter ausbauen. Social media sowieso.

 

Welche Punkte bzw. Wünsche sind aus der Umfrage eingeflossen?

Durch die Umfrage haben wir gemerkt: Genauso viel Menschen kennen uns durch digitale Kommunikation wie durch das Printprogramm. Deshalb haben wir uns ja an die „Verflüssigung“ der Informationen gemacht! Für das Printmagazin haben sich viele (wieder) eine kalendarische Auflistung aller Einzeltermine im Halbjahr gewünscht. Dies haben wir jetzt auch geliefert: in einem doppelten Veranstaltungskalender listen wir zunächst „alle Vorträge und Workshops“ nach dem Kalender auf, danach erscheinen alle Veranstaltungen kalendarisch nach Fachbereichen geordnet.

 

Gibt es mit dem neuen Programm auch ganz neue Inhalte bzw. eine neue Schwerpunktsetzung im Akademieprogramm?

Nein, ganz neue Inhalte gibt es nicht, aber wir können wohl jetzt deutlich besser erzählen, warum wir als Melanchthon-Akademie in dieser inhaltlichen Breite aufgestellt sind und worin darin der rote Faden verläuft.

Vielleicht spürt man in diesem Heft auch, wie wichtig es für die evangelische Kirche ist, sich der großen gesellschaftlichen Wandlung, der „großen Transformation“, die ja alle Bereiche des Lebens umfasst, zu stellen und sie mitzugestalten. Mit anderen Worten: Die Krisen, die uns umgeben, sind auch Chancen, anders zu leben!

 

Was wären für Sie 3 Highlights/Tipps aus dem ersten Halbjahr?

Das ist immer schwierig, etwas aus gut 300 Veranstaltungen herauszufischen. Aber wenn, dann nenne ich das „Projekt Postkolonial“, eine gemeinsame Veranstaltungsreihe mit der katholischen Karl Rahner-Akademie, die sich konkret mit Kölner Kunstgeschichten im postkolonialen Zusammenhang beschäftigt (S. 38f). Schon über die Titelseite können Sie in diesem Heft die beeindruckende Künstlerin und Dozentin JOVITA kennenlernen, die sich mit Kunstwerken vorstellt, in denen die Farbe BLAU eine besondere Rolle spielt (S.42ff). Und gerne erzähle ich auch von dem friedenstheologischen Kurs FriedensMut , das im Februar 23 beginnt und zusammen mit dem Katholischen Bildungswerk und dem Ökumenischen Institut für Friedenstheologie verantwortet. Mit seinem Gründer, Dr. Matthias Engelke, führe ich im Magazin auch ein ausführliches Interview (S. 22).

Co-Working Plätze in der Melanchthon-Akademie

Von Januar – März 2023 haben wir folgende Aktion zum #waermewinter geplant: Wir vergeben kostenlose Co-Working Plätze in unserer Akademie!

Nach Anmeldung unter coworking@melanchthon-akademie.de stehen Euch und Ihnen in 3 Räumen je 3-4 Arbeitsplätze von 9-13 Uhr zur Verfügung.

Kaffee, Tee und eine inspirierende Umgebung gibt es auch.

Gedacht ist die Aktion besonders für Menschen, die in diesem #waermewinter in einer beheizten Umgebung arbeiten wollen. Melde Dich/ melden Sie sich gerne und erzähle/n Sie Freund:innen davon, für die diese Aktion interessant sein könnte.

Wichtig ist: Es sind begrenzte Plätze nach Anmeldung verfügbar, auf die kein rechtlicher Anspruch besteht. Weiterhin gilt das Hausrecht der Melanchthon-Akademie.

Wir freuen uns, von Euch und Ihnen zu hören!

Gebetsruf an der Venloerstraße – Eine Erkundung im Zwischenraum

Als evangelische Pfarrerin in Köln und langjährige Wegbegleiterin des Moscheebaus an der Venloerstraße möchte ich am Freitag, den 14.10.2022, dabei sein, wenn der Ruf zum Gebet an der Zentralmoschee zum ersten Mal in diesem Rahmen im öffentlichen Raum ausgerufen wird. Wie wird es klingen?  Wie wird sich der neue Sound in das Konzert der Klänge von Autolärm, Glockengeläut, Kinderstimmen, Fahrradklingeln etc. an der Venloerstraße einfügen? Wer wird dort sein? Wer wird seine Stimme erheben? Um 13.20h stehe ich an der Moschee.

Schaue ich zur rechten Seite der Straße, sehe ich muslimische Frauen und Männer in Erwartung des Freitagsgebets die Freitreppe zur Moschee hinaufgehen. Ob sie sich freuen, dass ihre Religion in dieser Stadt nicht nur sichtbar, sondern zur Gebetszeit auch hörbar ist? Ob sie sich als Kölner:innen an diesem Tag auch an die verpatzte Eröffnung der Moschee oder an die rechtsgerichteten Proteste gegen die Moschee hier auf der Straße erinnern? Viele von ihnen scheinen mir zu jung für diese Erinnerung.

Schaue ich zur linken Seite der Straße, sehe und höre ich ein Gruppe von Protestierenden:  ‚Frauen Leben Freiheit‘ –  der Slogan, der in diesen Tagen besonders im Iran, aber auch weltweit in Solidarität mit den Protestierenden im Iran skandiert wird. Frauen mit iranischer Herkunft und solidarische Begleiter:innen haben sich in Position gebracht, um auf den mutigen Kampf der Frauen für Freiheit und Gerechtigkeit im Iran aufmerksam zu machen. Ob sie den Ort ihres Protestes gewählt haben, weil sie wissen, dass viel Presse zugegen sein wird? Oder brauchen sie einfach irgendeinen muslimischen Adressaten für ihre Kritik und da es in Köln nur eine sehr kleine schiitische Moschee gibt, haben sie sich lieber für die sichtbarste und größte Moschee entschlossen?

Ich befinde mich auf dem Bürgersteig im Dazwischen, die Zwischenräume im öffentlichen Raum scheinen besonders geeignet, um die Errungenschaften einer offenen Gesellschaft zu erkunden. In diesem Moment wird der Bürgersteig an der Venloerstraße, an dem ich mich befinde, zu einem besonderem Erfahrungsraum zwischen der Freiheit von Religion bzw. der Trennung von Staat und Religion und der Freiheit zur Religion. Wer wird zu Gehör kommen? Welche Stimmen werden wie laut zu hören sein?

Ich weiß es zu schätzen, dass in diesem säkularen Rechtsstaat die verschiedenen Stimmen, sowohl die religiösen als auch die säkularen, sowohl die Frauen als auch die Männer im öffentlichen Raum gleichberechtigt hörbar sind, ihren Platz haben und staatlicherseits geschützt werden – weltweit leider immer noch nicht selbstverständlich. Ich bin erleichtert, dass am heutigen Tag nicht wie in zurückliegenden Jahren die rechtsradikalen und rechtspopulistischen Gruppen und Parteien das Bild des Protestes bestimmen. Jedenfalls kann ich keine rechten Sprüche hören oder Plakate sehen. Haben wir doch in den vergangenen Jahren zu Genüge gegen dieses Szenario auf der Venloerstraße vor der Moschee für die Moschee gestanden.

…und dann wird es 13.24h – die angekündigte Zeit zum Gebetsruf. Ich stehe direkt vor dem Treppenaufgang zur Moschee und höre ihn leise, den Ezan, den Ruf zum Gebet und das Bekenntnis zu dem einen Gott und Mohamed, seinem Propheten. Er fädelt sich relativ unaufgeregt in die Klangwelt und Geräuschkulisse der Straße ein und ist nach wenigen Minuten wieder verklungen. Man muss bewusst lauschen, um ihn in der Vielstimmigkeit der Straßenecke herauszuhören. Es bestätigt mich in der Einschätzung, dass die Kritik an der Abhängigkeit der DITIB vom türkischen Ministerium für Religionsangelegenheiten einen anderen Anlass und Zeitraum braucht als diese drei Minuten öffentlicher Gebetsruf unter 60 Dezibel. Auf jeden Fall ist der Autolärm und die entschlossenen Rufe der Frauen: ‚Frauen, Leben, Freiheit‘, die die Gewalt und Brutalität der islamischen Republik Iran nicht mehr ertragen, deutlich lauter. Auf den Autolärm und Ressourcenverbrauch, der ihn verursacht, kann unsere Gesellschaft gut und gerne verzichten – auf die Stimmen, die ein deutliches NEIN gegen den Machtmissbrauch durch die Verquickung von Staat und Religion/Ideologie setzen und sich für eine offene, diverse Gesellschaft einsetzen allerdings auf keinen Fall, in diesen Zeiten, in denen demokratische Strukturen von despotischen Kräften und Mächten bedroht werden. Wir brauchen sie alle, die diversen und kontroversen Stimmen, die eine Demokratie stark machen und demokratisches Tun unterstützen.

In diesem Sinne hoffe ich, dass die Polyphonie der Säkularen und Gläubigen, der Einheimischen und Eingewanderten, der Glocken und Gebetsrufer, Kopftuch- und Kippaträger:innen weiterhin sichtbar und hörbar ist und diese Gesellschaft und Stadt mit ihren religiösen und säkularen Räume prägen werden und sich die Bürger:innen unserer Gesellschaft an dieser Vielstimmigkeit erfreuen und in diesen Zeiten für sie wehrhaft einstehen.                                                                                                                                                                                                                                                      Dorothee Schaper

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