Kategorie: Theologie treiben (Seite 1 von 4)

„An den Kanten Stark“ – Interreligiöses Bildungsprojekt der Melanchthon-Akademie ab September

Ab September geht’s in Köln und im Rhein-Erft-Kreis wieder stark zu – zumindest im theologischen Sinne. Die Melanchthon-Akademie startet ihr Bildungsprojekt „An den Kanten Stark“. Dabei geht es um große Fragen: Wo stehen wir als Gesellschaft? Wo wird’s brenzlig? Und wie können Religionen Brücken bauen?

Pfarrer Martin Bock leitet die Melanchthon-Akademie und hat das Projekt zusammen mit seinen Kolleginnen Dorothee Schaper und Antje Rinecker geplant: „Wir werden im September dieses Jahres ein schon sehr etabliertes Projekt wieder neu auflegen, was den bekannten Namen ,Stark‘ hat. Damit ist gemeint, dass theologisches Reden und Denken immer auf das Mit-Denken der Anderen angewiesen ist. Das „stärkt“. Theologie als Dialog-und Gemeinschaftsprojekt. Diesmal legen wir „Stark“ mit zwei regionalen und überregionalen Kooperationspartnern aus dem jüdischen und dem muslimischen Bereich auf. Was wir damit erreichen wollen, ist, sich zu vergegenwärtigen, dass wir an den großen Rissstellen oder Abbruchkanten, in denen wir im Moment gesellschaftlich stehen, mit möglichst einer Stimme sprechen oder zumindest auf eine abgestimmte gemeinsame Erzählung aus sind.“

Diese „Kanten“ sind für Martin Bock nicht nur ein Bild – sie stehen für echte Herausforderungen, bei denen die Religionsgemeinschaften auf eine neue Art Theologie zu treiben beginnen. Er erklärt: „Wir haben dieses Projekt ,An den Kanten‘ genannt und gehen eigentlich auf eine Erfahrung aus, die viele machen, die selber sozusagen an so einer Kante gestanden haben. Zum Beispiel Menschen aus dem Klimaaktivismus, die gesagt haben, wenn ich in einem Braunkohleabbaugebiet an einer Kante stehe, dann habe ich eine andere Spiritualität. Und dann sehe ich Geschichten aus der Bibel nochmal mit einer anderen Dringlichkeit und Aktualität.“

Theologie treiben, aber nicht im stillen Kämmerlein

Und diese Kanten erlebt Martin Bock auch persönlich – vor der eigenen Haustür: „Ich bekomme als Mensch, der in Pulheim wohnt, im Rhein-Erft-Kreis schon mit, dass das Thema, wie geht es in Zukunft im Rhein-Erft-Kreis weiter, wenn es den Braunkohleabbau nicht mehr gibt, von den Menschen unterschiedlich beurteilt wird. Wir sind alle von den großen Spannungen in der Welt, den Kriegen in Gaza, in der Ukraine, und so weiter, mitgenommen und suchen nach Einblicken und Perspektiven, die auch von den Texten der Heiligen Schriften geprägt und geleitet sind. Das wollen wir in diesem Stark-Kurs nochmal besonders intensiv, face-to-face, miteinander besprechen.“

Klingt intensiv – und das ist gewollt. Theologie treiben, aber nicht im stillen Kämmerlein, sondern im Austausch der Religionen, mitten im Leben. Wer dabei sein will, muss kein theologisches Vorwissen haben – nur Lust auf neue Perspektiven und Begegnungen.

Weitere Infos gibt’s hier auf der Website der Melanchthon-Akademie. Hier können Sie den Flyer herunterladen.

Den Beitrag können Sie auch auf Radio Erft in der Sendung Himmel und Erde oder in der Mediathek von Studio Eck e.V. hören.

Martin Bock

Martin Bock

Credo? Nicäa: Was uns verbindet – 1700 Jahre Glaubensdialog

Vor 1.700 Jahren beim Konzil von Nicäa im Jahr 325 rangen die Christen mit Fragen des Glaubens und ihrer Identität. Die damals noch junge Kirche, vor kurzem noch verfolgt und nun aus den Katakomben hervorgekommen, gab sich ein verbindliches Bekenntnis, eine Lehrgrundlage für eine Gemeinschaft, die zur Weltreligion wurde.

Foto: Griechisch-orthodoxe Kirchengemeinde Christi Himmelfahrt zu Berlin

Seit 381, dem Konzil von Konstantinopel, gilt das Nicäno-Konstantinopolitanum bis heute konfessionsübergreifend als das maßgebliche Bekenntnis der Christenheit. Ein ökumenischer Schatz.

Heute, 2025 Jahre nach Christi Geburt und 1700 Jahre nach Nicäa, steht unsere Gesellschaft vor großen Herausforderungen und ringt erneut um ihre Identität und Einheit. Beunruhigende geopolitische Entwicklungen fordern uns heraus. Und immer wieder steht da die Frage nach einem Gott, der so etwas eigentlich nicht zulassen kann.

Wenn wir in unserer Zeit von Diskussionskultur sprechen, ist unsere Bereitschaft, Ansichten und Positionen respektvoll zu teilen, mit schlüssigen Argumenten zu untermauern und dem Gesprächspartner das Recht einer anderen Meinung einzuräumen, oft zu bezweifeln.

Warum also das Jubiläum einer Synode längst vergangener Zeiten feiern, wenn sich sowieso alle uneins sind?

Nicäa war eine Zäsur! Die theologischen Unterschiede jener Zeit wurden in einem Gesprächsprozess auf Augenhöhe erörtert, führten zu einem für alle gültigen Ergebnis. Die Bereitschaft in Nicäa, eine konkrete Formulierung zu finden, die das Zeugnis des Glaubens in Form goss und vermittelbar machte, war die Grundlage dieser Zusammenkunft.

Ebendieser Umstand sollte uns motivieren, den Dialog zu intensivieren und seine Chancen zu erkennen.

Es lohnt sich, das Credo auf verschiedenste Weisen weiterzubuchstabieren.

Eine Weise ist die Verwandlung von Worten in Bilder, eine Visualisierung des christlichen Glaubens. Dafür steht die in diesem Jahr neugeschriebene „Nicäa-Ikone“. Die byzantinische Konstantins-Ikone zeigt, worum es geht: Einheit in Christus! Sie kommt im September nach Köln und ermutigt uns, unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt durch den Dialog und den Einsatz aller zu stärken und gemeinsam in die Welt hineinzuwirken.

Eine andere Weise führt uns in das Reich der Musik. Wir brauchen Klänge und Töne, die mehr sagen können als tausend Worte. Für Luther war das Reich Christi ein Hör-Reich, nicht ein Seh-Reich. Weil das Ohr so nah an unserer Seele ist, weil es das Erste und Letzte ist, was uns zu Geschöpfen macht.

VERANSTALTUNGSHINWEIS

Mo., 08.09.2025, 19:00–21:00 Uhr
Knotenpunkt „Nicäa“
Zur Entwicklung und Beziehung des christlichen und jüdischen Glaubens in den ersten drei Jahrhunderten
Prof. Jens Schroeter, Prof. Matthias Morgenstern
In Zusammenarbeit mit der Karl Rahner-Akademie
14,00 € | Anmeldung erforderlich | Nr. 1212B

Fr., 26.09.2025, 16:30–17:30 Uhr
Ökumenischer Gottesdienst im Kölner Dom
Anlässlich des 1700-jährigen Geburtstages des Glaubensbekenntnisses von Nicäa mit einer musikalischen Uraufführung von
„Credo. Six Composers – Six Parts – One Christian Faith“
Ökumenischer Projektchor, Erzpriester Constantin Miron,
Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Köln

Fr., 26.09.2025, 18:00–20:00 Uhr
Unglaublich. Bekennen heute
Eine Soiree
Mit: Erzpriester Constantin Miron, Prof. Dirk Ansorge, Dr. Reiner Leister, LKR Markus Schaefer
Domforum, Domkloster 3

Mi., 08.10.2025, 20:00–21:30 Uhr
CREDO? Ich glaub schon
Ein Liederworkshop
Mechthild Brand, Helga Heyder-Späth, Antje Rinecker
Kostenfrei | Gemeindehaus der Ev. Christuskirche Köln-Dellbrück
Dellbrücker Mauspfad 345
Nr. 4214R

Das neue Kunstwerk zum christlich-jüdischen Verhältnis im Kölner Dom: Kunstbegriff auf dem Prüfstand

„Mit der Judensau steht neben der Glaubwürdigkeit der kirchlichen Umkehr

von 2000-jähriger Judenfeindschaft

auch unser Kunstbegriff insgesamt auf dem Prüfstand.“

Fotorechte; Hohe Domkirche Köln; Visualisierung: A. Büttner auf Basis einer Fotografie von C. Knieps

Marten Marquardt, ehemaliger Akademieleiter der Melanchthon-Akademie, hatte im Jahr 2002 zusammen mit Reiner Bernstein und anderen eine Tagung zum Thema „Gewalt im Kopf. Tod im Topf“ initiiert. Mit ihr war eine Kunstaktion verbunden. Der Aktionskünstler Wolfram Kastner ging vor dem Portal des Doms mit einem Schild um den Hals umher, auf dem stand: „Judensau!“. Mit der Empörung und der öffentlichen Aufmerksamkeit für die damals noch wenig bekannten antijüdischen Kunstwerke im Dom nahm eine Auseinandersetzung ihren Anfang, deren Meilenstein in diesem Jahr 2025 dazu geführt hat, dass wir von zahlreichen antijüdischen Artefakten im Dom wissen, die vom Mittelalter bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts führen. Von einer „ostentativen Ahnungslosigkeit“ bis in diese jüngste Zeit spricht daher zu Recht Bernd Wacker, ehemaliger Leiter der Karl Rahner-Akademie, der sich auf dem langen Weg seit 2002 bis zur Gegenwart maßgeblich für einen tiefgreifenden Weg der Umkehr im christlich-jüdischen Dialog eingesetzt hat.

Umso beglückender ist es, dass in diesem Jahr ein vom Domkapitel ausgerichteter internationaler Kunstwettbewerb im Kölner Dom stattfand – mit einem aufregenden Ergebnis. Das Kunstwerk der Berliner Künstlerin Andrea Büttner „Ohne Titel“ wurde ausgelobt und wird vom kommenden Jahr an in einer ständigen Intervention an der Stirnwand der Marienkapelle im Süden des mittelalterlichen Doms zu sehen sein. Es wird eine Wandmalerei mit dem Steinfundament des Thoraschreins aus der ehemaligen mittelalterlichen Synagoge zeigen, die im 15. Jahrhundert nach der Vertreibung der Juden aus Köln in eine Ratskapelle umgewandelt wurde. In dieser Kapelle, die eigentlich die Synagoge der vertriebenen Juden ist, stand bis zur Zeit des 2. Weltkriegs der Altar der Stadtpatrone, der dann nach Zerstörung der Ratskapelle in den Dom wanderte. Das neu entstehende Bild des schwebenden Fundaments des Thoraschreins über dem christlichen Altar macht einen neuralgischen Punkt im jüdisch-christlichen Verhältnis sichtbar, zeigt eine offene Wunde in diesen Beziehungen und lässt den Altar der Stadtpatrone auch als Zeugnis beschämender christlicher Machtinteressen erkennen. Der Eingriff der Künstlerin spiegelt das jüdisch-christliche Verhältnis auf subtile Weise: Er reflektiert die Stadtgeschichte hinsichtlich des belasteten Verhältnisses und zeigt beispielhaft eine tiefe Verletzung – so hat es Abraham Lehrer, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, ausgedrückt.

Die jüdische Gemeinde war – auch das ist eine beglückende Erfahrung – von Anfang an in die Initiative zu dem Kunstwettbewerb eingebunden, hat ihn mitgetragen, ebenso wie die Kölner Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region, der durch unsere Akademie in der Jury vertreten war.

„Unser Kunstbegriff steht auf dem Prüfstand.“ Wir sind in den 23 Jahren nach 2002 einem erneuerten Verhältnis von Christinnen und Juden ein Stück nähergekommen – und zwar nicht in theologischer Sprache, sondern im Medium zeitgenössischer Kunst.

VERANSTALTUNGSHINWEIS

Mo., 29.09.2025, 18:00–20:00 Uhr
Alte und neue Kunst – Zwischen Christen und Juden
M. Bock, D. Schaper, P. Füssenich, u. a.
Kostenlos | Nr. 1207B

Impulse für ein gemeinsames, glaubensoffenes Miteinander

Illustration: Konstanze Ebel

„Es gibt einen Riss in allem. So kommt das Licht herein.“
– „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.”

So singt es Leonard Cohen in seiner berühmten „Anthem“ aus dem Jahr 1992. Dieses Lied, so schreibt unsere Münchener Kollegin Jutta Höcht-Stöhr treffend, „bietet eine sehr nüchterne Zeitanalyse: Die Kriege werden weitergehen. Die heilige Taube, die Friedentaube, wird wieder und wieder eingefangen werden. Es gibt Gesetzlosigkeit und es gibt Scheinheiligkeit. Menschen, die töten, sprechen zugleich lauthals Gebete. Die Zeichen sehen nicht gut aus. Sie stehen auf Sturm.“ Aber die Zeichen der Zeit, wie sie Leonard Cohen sieht, sind zugleich nicht eindeutig. Sie wollen und können so gesehen werden, dass „durch den Riss im System das Licht hereinkommt“.

An der Melanchthon-Akademie treiben wir deshalb so Theologie, dass immer wieder licht-durchflutende Risse erkennbar werden, die sich einer Logik des nur Konfessionellen widersetzen. Mehr denn je glauben wir, dass Theologie verwickelt sein muss in die großen gesellschaftlichen, ökologischen und spirituellen Transformationen, denen wir ausgesetzt sind. Hier schärft sich das, was wir angesichts von Gottes Offenbarungen sagen und gestalten möchten. Wir sehen eine große Chance darin, in interreligiöser Offenheit Theologie (nach vorne) zu treiben, konsequent jüdische, christliche und muslimische Stimmen aufeinander zu beziehen.

SEMINAREMPFEHLUNG

Room of one. Raum für alle.
Ein multireligiöses Gebet in der Kartause.
Das inspirierende Projekt des „Zentrums für Komparative Theologie“ am Bonner Münster wird nach den Herbstferien auch in Köln im Refektorium des Hauses der Kirche gastieren. Jüd:innen, Muslim:innen und Christ:innen setzen wöchentlich am Dienstagnachmittag ein gemeinsames spirituelles Zeichen des Friedens und der Versöhnung.
Dr. Nasrin Assadi, Dr. Annette Boeckler, Dr. Martin Bock, Dorothee Schaper, u.a.
Refektorium | Kartäusergasse 9–11 | Eintritt frei | Nr. 1205B

Erster Termin: 24.09.–25.09.2025, An der Kante der Schöpfung
Zweiter Termin: 12.11.–13.11.2025, An der Kante der Worte – Stille
An den Kanten STARK
Interreligiös Theologie treiben.
STARK“ ist ein an der Melanchthon-Akademie schon etabliertes Langzeit-Projekt für Laien, die lernen, Theologie aus verschiedenen Perspektiven zu treiben. Das kommende STARK-Projekt wird online (mittwochs, 19–21 Uhr) und präsentisch (donnerstags, 18–22 Uhr) stattfinden, damit wir uns in diesen beiden Begegnungs- und Lernräumen kennenlernen. Sie benötigen kein besonderes Vorwissen, keine konfessionelle oder religiöse Bindung. Allein Ihre Neugier und Ihre Lust, Neues und neue Menschen kennenzulernen, ist wichtig.
September 2025 – November 2026
7 Doppeltermine | 49 Ustd | 260,00 € | Nr. 1204B

So., 21.09.2025, 18:00–20:00 Uhr
Gebet der Religionen am Weltfriedenstag der UN
Der Rat der Religionen Köln lädt ein: in diesem Jahr im Haus der Kirche – welcome!
1 Termin | Eintritt frei | Nr. 1206S

Mo., 29.09.2025, 18:00–20:00 Uhr
Alte und neue Kunst zwischen Christen und Juden.
Das internationale Kunstprojekt am Kölner Dom.
2023 lobte das Domkapitel des Kölner Doms einen internationalen Kunstwettbewerb aus, aus dem im März 2025 die Berliner Künstlerin Andrea Büttner mit „Ohne Titel“ als Preisträgerin hervorging (s. S. 26). Alle 15 im Wettbewerb eingeladenen Kunstschaffenden haben beeindruckende Vorschläge gemacht, die wir an diesem Abend mit Mitgliedern der Jury auf uns wirken lassen.
Dr. Martin Bock, Dorothee Schaper, Peter Füssenich (angefr.)
1 Termin | 7,00 € | Nr. 1207S

Kunstwerk im Dom zum christlich-jüdischen Verhältnis – MAK-Leiter Martin Bock: „Sehr wichtiges Projekt“

Andrea Büttner, Guido Assmann, Rolf Steinhäuser und Peter Füssenich (v.l.) vor dem Siegerentwurf.

Andrea Büttner, Guido Assmann, Rolf Steinhäuser und Peter Füssenich (v.l.) vor dem Siegerentwurf.

Zahlreich sind die unsäglichen antijüdischen Artefakte im Kölner Dom. Seit einigen Jahren setzt sich das Kölner Domkapitel mit der Frage nach einem angemessenen Umgang mit den Kunstwerken in der Kathedrale auseinander, die von erschreckender Judenfeindschaft zeugen. Nun endete ein vom Domkapitel 2023 ausgelobter „Internationaler Kunstwettbewerb Kölner Dom“. Dessen Ziel lautete, den Dom dauerhaft um ein Werk zu bereichern, „das die Frage zum Ausgangspunkt nimmt, wie sich das christlich-jüdische Verhältnis zeitgemäß und für die Zukunft inspirierend darstellen lässt“. Eingeladen waren 15 international renommierte Künstlerinnen und Künstler. Im März kürte das Preisgericht den Siegerentwurf: Einstimmig zur Umsetzung empfahl es den Entwurf „Ohne Titel“ von Andrea Büttner.

MAK nahm antijüdische Artefakte im Dom früh in den Blick

2017 habe die Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit die Arbeitsgruppe „Der Dom und die Juden“ initiiert, informierte Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie (MAK) Köln. „Zu ihr gehören Vertreter der Kölnischen Gesellschaft, des Domkapitels, der Dombauhütte, aber auch der Synagogen-Gemeinde Köln.“ Für den Evangelischen Kirchenverband Köln und Region (EKV) wurde Bock in diese Arbeitsgruppe berufen. Wohl auch deshalb, so der Theologe, „weil sich die MAK seit langer Zeit mit den antijüdischen Artefakten im Kölner Dom auseinandersetzt und sie problematisiert.“ 2002 bereits habe die MAK mit der Tagung „Gewalt im Kopf. Tod im Topf“ eine Kunstaktion verbunden. „Bei dieser ging der Aktionskünstler Wolfram Kastner vor dem Portal des Doms mit einem Schild um den Hals umher, auf dem stand: ´Judensau!´“, erinnert Bock. „Mit der Empörung und öffentlichen Aufmerksamkeit für die damals noch wenig bekannten antijüdischen Kunstwerke im Dom nahm die Auseinandersetzung ihren Anfang.“

Andrea Büttner mit ihrem Entwurf.

Andrea Büttner mit ihrem Entwurf.

Das neue Bild soll oberhalb des Lochner-Altars „schweben“

Der Entwurf der in Berlin lebenden Künstlerin Andrea Büttner, Jahrgang 1972, sieht ein Wandgemälde an der Stirnwand der Marienkapelle des Domes vor. Es soll das Steinfundament des Thoraschreins aus der ehemaligen mittelalterlichen Synagoge Kölns in der Umgebung des heutigen Rathauses in originaler Größe und realistisch zeigen. Umgesetzt werden soll die Arbeit oberhalb des von Stefan Lochner um 1442 für die Ratskapelle geschaffenen und 1810 in den Dom überführten Altars der Stadtpatrone. „Die geplante Darstellung wirkt abstrakt und ist doch historisch und konkret“, informiert Büttner, die eine Professur für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste München innehat.

Ersetzung eines Thoraschreins durch einen christlichen Altar

„Nach der Ausweisung der jüdischen Bevölkerung Kölns 1424 wurde die Synagoge zur Ratskapelle umgewidmet und der Thoraschrein auf dem Fundament durch Lochners Altar ersetzt“, sagt Büttner. Ihr geplantes Kunstwerk verbinde im Dialog mit dem Altar die Geschichte des jüdischen Quartiers mit der des Domes. Das ermögliche auf unmittelbare Weise, die Ersetzung eines Thoraschreins durch einen christlichen Altar und die Präsenz jüdischen Lebens in Köln zu erzählen. „Es stellen sich Fragen über historische Schichtungen und Überschreibungen, Fragen über Alt und Neu, Oben und Unten. All diese Motive sind historisch, theologisch und politisch relevant.“

Idee für ein neues Kunstwerk für den Dom

Rolf Steinhäuser, Abraham Lehrer, Dr. Jürgen Wilhelm und Peter Füssenich (v.l.).

Rolf Steinhäuser, Abraham Lehrer, Dr. Jürgen Wilhelm und Peter Füssenich (v.l.).

Aus der Arbeitsgruppe „Der Dom und die Juden“ heraus sei es in den vergangenen Jahren zu einzelnen Veranstaltungen und auch Ausstellungen gekommen, die die verschiedenen Artefakte kommentiert, kontextualisiert und natürlich auf das Deutlichste kritisiert hätten, so der MAK-Leiter. „Immer wieder stand die Frage im Raum: Was kann es über diese Kontextualisierung hinaus an Möglichkeiten geben, das gegenwärtige Verhältnis von Juden und Christen in den Dom einzutragen? Am Rande einer Veranstaltung 2019 entstand dann die Idee, nach einem NEUEN Kunstwerk für den Dom Ausschau zu halten.“ Bock wurde – wiederum als Vertreter der evangelischen Kirche – in eine Projektgruppe berufen, die im Auftrag des Domkapitels diesen Gedanken eruierte.

Initiative für den Wettbewerb

Bock spricht von einer „historischen Sitzung im Sommer 2023“. Zu dieser hätten Abraham Lehrer und Bettina Levy, Vorstandsmitglieder der Synagogen-Gemeinde Köln und die jüdischen Vertretenden in der Projektgruppe, das Domkapitel in die Räume der Synagoge in der Roonstraße eingeladen. Bei dieser Begegnung, so Bock, „wurden die Weichen für die Initiierung des Internationalen Kunstwettbewerbes gestellt“. Und in diesem Rahmen habe man eine Jury benötigt, in der auch die theologische Kompetenz für den jüdisch-christlichen Dialog eine Rolle gespielt habe. In dieser Jury durfte Bock stellvertretendes Mitglied sein: „Ich konnte an allen Sitzungen auch mit vollem Rederecht teilnehmen. Ein aufregendes, für mein theologisches Leben einmaliges Projekt, für das ich sehr dankbar bin.“

Dompropst Assmann: „Ein ganz wichtiger Tag heute“

Zuletzt wurde die Entscheidung der Jury der Öffentlichkeit vorgestellt. Dompropst Msgr. Guido Assmann äußerte sich im Namen des Domkapitels, „dass wir alle wirklich froh sind, dass die Kölnische Gesellschaft mit dabei ist und von Anfang an gesagt hat, wir müssen etwas tun, und können wir nicht etwas gemeinsam tun?“ In seinen Dank schloss er auch die Synagogen-Gemeinde Köln ein, „die sich mit uns zusammen- und auseinandergesetzt hat“. Ebenso die christlich-jüdische Projektgruppe, die das Ganze mit vorangetrieben habe, sowie die Wettbewerbsteilnehmenden. Die Vorstellung des Siegerentwurfs bedeute nicht einen Abschluss. „Das Thema, das Verhältnis Juden-Christen/Christen-Juden, ist ein Dauerauftrag an uns, das immer wieder anzugehen. Ich bin froh, dass wir das mit einem Akzent heute deutlich machen können“, sagte Assmann. Das Domkapitel folge der Empfehlung der Jury und werde aufgrund eines einstimmigen Beschlusses dieses Kunstwerk gerne umsetzen lassen. Derzeit würden die denkmaltechnischen Möglichkeiten untersucht und der Zeit- und Kostenrahmen entwickelt.

Das Kunstwerk „,Ohne Titel‘ ist ein visueller Einschlag“

„Die Teilnehmenden des Wettbewerbs haben ganz unterschiedliche und sehr eindrückliche Konzepte für das neue Kunstwerk im Kölner Dom vorgelegt“, attestierte ihnen die Jury-Vorsitzende Prof. Andrea Wandel ein großes Engagement und eine sorgfältige und tiefgehende Auseinandersetzung mit dieser besonderen Thematik. „Das Kunstwerk ´Ohne Titel´ von Andrea Büttner ist ein visueller Einschlag“, zitierte die Architektin aus der Begründung des Preisgerichts. „Es fordert die Betrachtenden nicht nur visuell heraus, sondern auch intellektuell. Die Darstellung des schwebenden Steines bringt eine zum Nachdenken anregende Ambilavenz ins Bild. Andrea Büttners Kunstwerk stellt sich auf präzise Weise der Kontextualität des Ortes.“ Das Werk lege einerseits eine in der Stadtgeschichte ablesbare Missachtung der jüdischen Bevölkerung offen. Andererseits befördere es die Auseinandersetzung mit dem Dom als Bedeutung und Sinn stiftenden überzeitlichen Sakralraum. „Die Arbeit zeigt exemplarisch eine Möglichkeit auf, dem antijüdischen und antisemitischen Bilderbe in Kirchen zu begegnen und den christlichen-jüdischen Dialog im Wissen um die Verfehlungen in der Vergangenheit auf Augenhöhe zu führen.“

Erfüllt den Anspruch, Kunst zu sein und nicht eine Illustration

„Ich war sprachlos, als ich den Entwurf zum ersten Mal gesehen habe“, erinnerte Dr. Stefan Kraus. Der Leiter des Erzbischöflichen Kunstmuseums Kolumba hatte den Eindruck, „da kommt etwas auf uns zu, was tatsächlich den Anspruch erfüllt, Kunst zu sein und nicht eine Illustration oder eine Bebilderung von Vorgedachtem“. Gleichzeitig sei er intuitiv begeistert gewesen, „dass sich das erfüllt, was man im besten Falle hoffen kann: Dass wir ganz komplizierte Sachverhalte versuchen zu vermitteln, darzustellen, uns aber wünschen, dass etwas dabei rauskommt, dass mit der größten Einfachheit, mit der größten Präzision alles das mitnimmt, ohne unsere vorgedachten Erwartungen zu erfüllen, sondern mit dem Anspruch, den ich an Kunst prinzipiell hege, nämlich präzise Ambivalenz zu schaffen.“ Kraus sieht Büttner als eine Künstlerin, die sich souverän für jede Aufgabe das ideale Medium suche. Für eine ganz große Qualität des Werkes hält es Kraus, „dass es darauf angelegt ist, uns auch sprachlos zu machen und zu zeigen, dass die Kunst jenseits der Sprache Sinn stiften kann“.

Geschwisterlich begegnen

Büttner habe sich den wahrscheinlich bekanntesten Ort im Dom ausgesucht, meinte Weihbischof Rolf Steinhäuser. Die Marienkapelle erreiche durch die werktäglich aus ihr via TV im deutschen Sprachraum übertragene 8-Uhr-Messe eine Wahrnehmung wie kein anderer Ort im Dom, so der Domkapitular und Bischofsvikar für Ökumene und interreligiösen Dialog im Erzbistum Köln. „Hochspannend“ nannte er Büttners entschiedenen Wunsch nach diesem Platz. Büttners Kunstwerk wolle mitten in diesem lebendigen liturgischen Alltag die Verdeckung und Überformung jüdischer Spiritualität durch christliche Spiritualität aufgreifen. „Der Thoraschrein und das Altarbild ruhen auf dem gleichen Fundament, historisch gesehen, aber jetzt auch ganz praktisch“, stellte Steinhäuser fest. Das sei der Glaube an den einen Gott, der Israel erwählt habe. Der von ihm mit diesem Volk geschlossene Bund sei nie gekündigt worden. Zwar bestehe bis heute eine bleibende Differenz zwischen jüdischer und christlicher Glaubenslehre. Aber es sei wichtig, dass wir uns geschwisterlich begegneten und Anknüpfungspunkte hätten.

„Das ist das, was wir uns gewünscht haben“

„Der Blick zurück in das christlich-jüdische Verhältnis, die Beschreibung der Gegenwart und der Blick in die Zukunft. Das ist das, was wir uns gewünscht haben“, freute sich Abraham Lehrer über den Entwurf. Das Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln sieht in „Ohne Titel“ ein Kunstobjekt, das möglichst alle drei Fragen und Bereiche auf einmal beantwortet. „Das Wandbild macht einen neuralgischen Punkt im jüdisch-christlichen Verhältnis sichtbar, zeigt eine offene Wunde in diesen Beziehungen und lässt den Altar der Stadtpatrone auch als Zeugnis beschämender christlicher Machtinteressen erkennen. Der Eingriff der Künstlerin spiegelt das jüdisch-christliche Verhältnis auf subtile Weise: Er reflektiert die Stadtgeschichte hinsichtlich des belasteten Verhältnisses und zeigt beispielhaft eine tiefe Verletzung.“ Der analytische Blick auf die ortsspezifische Geschichte weite sich in die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, so Lehrer. Er dankte der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, dass sie diesen gesamten Prozess vor vielen Jahren bereits in Bewegung gesetzt habe. Und er dankte dem Domkapitel, dass es diesen Prozess überhaupt und den Künstlern eine große Freiheit ermöglicht habe.

„Judentum und Christentum auf Augenhöhe im Kölner Dom“

„Wir sind außerordentlich zufrieden“, bewertete Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, den Entwurf. Das Werk „ist wirklich eine Sensation. Judentum und Christentum auf Augenhöhe im Kölner Dom. Dank und Anerkennung für diesen wirklich mutigen Schritt nach Jahrhunderten der Diffamierung und Ausgrenzung.“ Geradezu genial nannte er Büttners Einfall, „sozusagen das Lesepult der alten jüdischen Synagoge zusammen zu schließen mit dem Altar der Stadtpatrone, der eben jahrhundertelang“ in dieser zu einem christlichen Gotteshaus umgewandelten Synagoge gestanden habe. „Weil wir nach vorne gehen wollen, muss ich sagen, bin ich sehr, sehr zufrieden damit“, stellte er nochmals die hervorragende Zusammenarbeit heraus. Mit Büttners Kunstwerk werde ein Bogen zum jüdischen Köln und dem in der Entstehung begriffenen Jüdischen Museum im Archäologischen Quartier Köln, kurz MiQua, hergestellt. Ihr Werk sei sinnstiftend und werde für große Aufmerksamkeit sorgen, so Wilhelm.

Den Altar nicht mehr ohne dieses Bild sehen und denken können

„Der Dom ist unbestreitbar ein Gesamtkunstwerk, in dem sich künstlerische Aussagen von Menschen, Gesellschaften der jeweiligen Zeit versammeln“, stellte Dombaumeister Peter Füssenich fest. Es sei gut, dass der Dom ein weiteres modernes Kunstwerk erhalte, das Büttner als Teil unserer Generation hinzufüge. „Der Altar der Stadtpatrone ist in sich schon ein ganz ikonisches Werk.“ Mit ihrem Werk gewinne dieser ikonische Altar eine weitere ikonische Bildhaftigkeit. „Man wird den Altar nicht mehr ohne dieses Bild sehen und auch nicht mehr denken können.“ Es verweise in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft – auf unsere gemeinsamen Fundamente, und all das, was mit den Fragen verbunden sei, die das Kunstwerk an uns stelle. Bei der Prüfung der Denkmalverträglichkeit sei keiner der zuletzt vier Entwürfe beanstandet worden. Ganz im Gegenteil greife Büttners Arbeit „auf die Raumwirkung innerhalb der Marienkapelle und die Atmosphäre ein, und verändert sie zu einem ganz positiven neuen Gesamtbild“. Malerei auf Stein sei im Dom ganz klassisch vorhanden. So füge sich das Werk auch in der Technik ganz wunderbar in das Gotteshaus ein.

Bevor das Werk hoffentlich 2026 realisiert werden könne, müssten noch Vorkehrungen getroffen werden. Darunter die konservatorische Sicherung einer Wandmalerei aus dem Jahr 1260 hinter dem Altar. Füssenich sprach ein großes Lob und größten Dank an Rolf Lauer und Bernd Wacker aus. Beide hätten mit dem umfangreichen Symposium 2006 den „Stein ins Rollen gebracht“. Damals seien zum ersten Mal die gesamten antijüdischen Darstellungen und Artefakte im Dom aufgearbeitet worden.

Ein sehr wichtiges Projekt

Für Bock ist der Wettbewerb „ein sehr wichtiges Projekt gewesen, nicht zuletzt wegen der Einbindung der jüdischen und der politischen Akteure aus der christlich-jüdischen Gesellschaft in Köln“. Das Domkapitel habe beispielhaft gezeigt, „dass eine Kathedrale mit der judenfeindlichen Haltung christlicher Theologie ohne Scheuklappen umgehen kann. Und dass sie den ökumenischen Impuls der Theologie und Kirchen aufnehmen kann, um zu einem wirklich NEUEN Verhältnis von Judentum und Christentum zu kommen, das auf Augenhöhe und gegenseitigem Lernen beruht“, sagte Bock im Interview. „Es war und ist beispielhaft, dass durch Kunst christliche Bauwerke einen Diskurs mit ihrer eigenen Vergangenheit führen können, die es kritischen Menschen erlaubt, diese oft belastende Vergangenheit nicht nur als ´Kriminalgeschichte´ anzusehen, die erst von außen skandalisiert wird.“

Christliches Fundament durch die Thora Israels vorgegeben

Der Sieger-Entwurf ist laut Bock sehr deutlich und klar in seiner Überordnung des Steinfundamentes des Thoraschreines über den christlichen Altar der Stadtpatrone. „Dies ist eine historische und eine theologische Aussage: historisch, weil damit die Unsichtbarmachung jüdischen Lebens im Mittelalter als solche aufgedeckt und überformt wird; theologisch, weil klar gesagt wird, dass christlich-spirituelle Aussagen, als Gebete, Schriftlesungen, Lieder und Predigten, wie sie täglich am Altar der Stadtpatrone ausgesprochen werden, eines Fundamentes bedürfen, das wir als Christen nicht selbst haben, sondern dass uns durch die Thora Israels vorgegeben ist.“ Dies sei ein „Wahrheitsraum“, den das Christentum immer wieder sträflich unterlaufen habe, indem es sich selbst – wie mit der Ratskapelle – an die Stelle des Gottesvolkes Israel gesetzt habe.

Das Werk „Ohne Titel“ ist in keiner Weise harmlos

Andrea Büttners Kunstwerk habe keinen „Titel“, so Bock, sie lasse diese und andere Deutungen in ihr Bild einfließen, sei dafür eine Leerstelle. „Ohne Titel“ sei dabei in keiner Weise harmlos – das Werk habe diese besagte konstruktive Facette, aber sie könnte als eine Drohung gelesen werden: „Dieser Fundamentstein ist ‚wieder aufgetaucht‘. Wehe dem, der ihn erneut zu vergraben sucht. Dem oder der ‚fällt er auf den Kopf‘. Mit ihm ist also zu rechnen. Andere können den ‚schwebenden Stein‘ aber auch als Angebot zu einer weniger festgezurrten Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Judentum lesen, also eher als ein gemeinsames Herausgefordertsein und Geeint-Werden durch die großen Polarisierungen unserer Zeit“, stellte Bock fest.

Text und Fotos: Engelbert Broich

Steinrelief „Judensau“ im Kölner Dom: Leitlinien für den Umgang mit antijüdischen Bildern – Interview mit Martin Bock

Foto: APK/Canva

Foto: APK/Canva

Text: Jil Blume-Amosu für „Himmel & Erde“ /APK

Ein Fenster im Kölner Dom zeigt jüdische Figuren aus der Bibel – und zwar so, wie sie auch die Nazis im Dritten Reich gesehen haben: als finstere Fratzen mit Hakennase. An anderer Stelle im Dom hängt ein Steinrelief. Es zeigt Juden, die an den Zitzen einer Sau hängen. Diese „Judensau“ und andere antijüdische Bilder sind leider keine Einzelfälle. Man findet sie bis heute in vielen evangelischen und katholischen Kirchen bundesweit.

Die meisten dieser verletzenden Kunstwerke stehen oder hängen dort schon seit vielen Hundert Jahren. Ein Grund mehr, sich mit ihnen zu beschäftigen, meint Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchton Akademie in Köln: „Ich glaube, dass die jüdischen Gemeinden, mit denen wir in unseren Städten zusammenwohnen, von uns sehr, sehr erwarten, dass wir uns konkret mit dem christlichen Antijudaismus, mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen.“

Martin Bock ist deshalb froh, dass die drei evangelischen Landeskirchen in NRW und die fünf katholischen Bistümer im Land das Thema jetzt aufgegriffen haben. Auf 40 Seiten haben sie im März Leitlinien herausgegeben, wie Gemeinden antijüdische Darstellungen in ihren Kirchen erkennen und wie sie mit ihnen umgehen können. Sie wollen damit „sozusagen eine Sehhilfe schaffen und dann aber die Gemeinde nicht mit Entscheidungen konfrontieren, sondern sagen: Was wollt ihr jetzt damit machen? Wollt ihr das aus den Kirchen rausholen? Wollt ihr es kommentieren? Wollt ihr es verhüllen? Wollt ihr es ergänzen durch eine neue zeitgenössische Darstellung?“

Für welche davon man sich letztlich entscheidet, ist zweitrangig, meint Dr. Martin Bock. Viel wichtiger ist, dass sich die Kirchen jetzt endlich um dieses lange totgeschwiegene Thema kümmern: „Damit wir dem Antisemitismus in unseren eigenen Reihen was entgegensetzen. Denn Antisemitismus findet nicht nur auf der Straße statt, ist kein Problem von anderen, sondern es ist unser eigenes Thema.“

Das anzupacken und aufzuarbeiten, wird ein langer Weg, der sich aber lohnt, sagt Martin Bock: „Das ist wirklich keine Sache, die man nebenbei machen kann, dazu muss man sich entschließen, als Gemeinde, als Kirchenkreis, und dann wird man auf jeden Fall Mitstreiter finden. Man wird aber auch Gegner haben. Aber um unseren jüdischen Mitmenschen in unserer Gesellschaft eine würdige Lebensperspektive zu schaffen, bin ich wirklich über diese Leitlinien dankbar. Das ist ein wichtiger Step.“

Der Original-Radiobeitrag ist bei „Himmel und Erde“ erschienen, dem Magazin der Kirchen in den NRW-Lokalradios. Sie finden ihn hier.

Das knapp 40 Seiten starke PDF-Dokument kann man hier herunterladen.

Unser Veranstaltungshinweis:

Gegen die ‚ostentative Ahnungslosigkeit‘: Ein neues Kunstwerk zum christlich-jüdischen Verhältnis für den Kölner Dom

„Der Kölner Dom soll … um ein Werk bereichert werden, das die Frage zum Ausgangspunkt nimmt, wie sich das christlich-jüdische Verhältnis zeitgemäß und für die Zukunft inspirierend darstellen lässt…“ Mit diesem Ziel lobte das Kölner Domkapitel 2023 den „Internationalen Kunstwettbewerb Kölner Dom“ aus. Inwiefern löst der Anfang April präsentierte Siegerentwurf diesen selbst formulierten Anspruch ein und welche Wirkungen sind von seiner Rezeption zu erwarten? Diese Frage wird an diesem Abend mit Vertreter:innen der Wettbewerbs-Jury aus jüdisch-christlich theologischer, künstlerischer und kuratorischer Perspektive eingeordnet und diskutiert. Dem Einladungswettbewerb, an dem sich 15 international renommierte Künstler:innen beteiligten, vorausgegangen war ein langjähriger Gesprächsprozess, bei dem sich das Kölner Domkapitel auf Initiative der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit der Frage nach einem angemessenen Umgang mit den zahlreichen antijüdischen Artefakten im Kölner Dom auseinandergesetzt hat. Noch wenige Jahre nach der Shoa wurde für den Kölner Dom das sogenannte Kinderfenster geschaffen, das von einer „ostentativen Ahnungslosigkeit“ (B. Wacker) gegenüber der antisemitischen Vergiftung christlicher Bildkunst zeugt und sie auf erschreckende Weise reproduziert.

Di, 29.04. 19-21.30 (3 UStd)

Dieser Kurs kostet 8,00€.
Zahlung an der Tages-/Abendkasse.
Nr. 1041B

Domforum, Domkloster 3

Die Teilnahmegebühren in Höhe von 8,00 € zahlen Sie bitte an der Tages- / Abendkasse. Anmeldung erforderlich.

Hinschauen! Sexualisierter Gewalt gemeinsam entgegentreten

Sexualisierte Gewalt ist ein gesellschaftliches Phänomen, dessen Bekämpfung u.a. einer klaren Sprache, faktenbasierter Information und Handlungswissen bedarf. Sexualisierte Gewalt geschieht – im Alltag, in Familien, Einrichtungen, Vereinen und Kirche. Die evangelische Kirche im Rheinland hat sich Januar 2021 dazu entschlossen, auf Basis eines Kirchengesetzes die Aufdeckung und Verhinderung von sexualisierter Gewalt ernstzunehmen und im kirchlichen Alltag zu integrieren.

Sensibilisierungsschulungen

Vor diesem Hintergrund bieten wir in der Melanchthon-Akademie seit Sommer 2021 in Kooperation mit den Ev. Beratungsstellen regelmäßige Schulungen zur Sensibilisierung gegen sexualisierte Gewalt an. Ziel der Schulungen ist, durch den Austausch von Erfahrungs- und Fachwissen zu sensibilisieren, sowie über Präventions- und Interventionsmöglichkeiten zu informieren.

Schulungstypen im Überblick

Auch 2025 setzt sich das Schulungsangebot fort. Die Schulung richtet sich an ehren-, haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter:innen des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region. Es werden mehrere Schulungstypen angeboten. Zum einen finden regelmäßige Basis-Schulungen statt. Den unterschiedlichen Arbeitsfeldern entsprechend, bieten wir zudem in Kooperation mit der Ev. Beratungsstelle Leitungsschulungen für bspw. Presybter:innen, sowie Schulungen für hauptamtliche Mitarbeiter:innen in sozialen Arbeitsfeldern an.

Inhouse Schulungen

Für die Schulung eines gesamten Teams bieten wir eine Inhouse Schulung mit individueller Terminabsprache an. Auch hier erfolgt die Anmeldung über die Homepage der Melanchthon Akademie.

Offene Termine für 2025

Offene Termine für das Jahr 2025 finden Sie unter:

melanchthon-akademie.de/praevention

VERANSTALTUNGSHINWEIS

Fr., 28.03.2025, 10:00–16 Uhr

Traumasensiblere Kirche werden
Weiterdenken – ein Jahr nach der ForuM-Studie

Die Melanchthon-Akademie und die Frauenbeauftragte der evangelischen Kirche in Köln haben sich zur Aufgabe gesetzt, das kirchenleitende Handeln zur Aufarbeitung und zur Prävention von sexualisierter Gewalt durch Bildungsangebote und Einladungen zum theologischen
Nachdenken zu begleiten. Ein Jahr nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie laden wir Sie ein, gemeinsam zu fragen und auszuloten,
was passieren muss, um auf dem Weg zu einer traumasensibleren Kirche zu sein…. Unser Studientag mit Vorträgen und Workshopangeboten soll Motivation und Auftakt sein sich auf den Weg zu machen.

Mit Prof. Dr. Michaela Geiger und Prof. Dr. Katharina von Kellenbach konnten wir Vortragende aus biblischtheologischer und sozialethischer Perspektive gewinnen. Workshops zu einzelnen thematischen Aspekten vertiefen das Vordenken. Kunst, Musik und kulturelle Interaktion bieten Freiräume zum Empowerment und Lust zum Weiterleben. Traumasensiblere und diskriminierungssensiblere Kirche können wir nur gemeinsam werden. Wir laden Sie zum Vor- und Weiterdenken ein.

Haus der Kirche I Kartäusergasse 9-11 I Nr. 1005B

LITERATURTIPP

„Entstellter Himmel: Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche“
Christiane Lange, Andreas Stahl, Erika Kerstner (Hrg.)
Zehn Menschen, die in der evangelischen Kirche Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, erzählen in diesem Buch, was sie erlebt haben. Sie decken auf, wie Missbrauch unter protestantischen Vorzeichen geschehen konnte. Sie finden Worte dafür, was es bedeutet, wenn Glauben und Sexualität in ihrer Intimität verletzt werden.
26,00€ I Herder Verlag

„Ha Makom“ oder: Wo finden wir Schutz?

Innenraum der Autobahnkirche Siegerland.

Innenraum der Autobahnkirche Siegerland.

„Ha Makom“ ist hebräisch und heißt übersetzt „Ort“. Gleichzeitig ist es eine Umschreibung des Ewigen. Der Ort der Ewigen war für lange Zeit der Tempel in Jerusalem. Eine der großen Katastrophen für das damalige Judentum war die Zerstörung des Tempels, der Verlust des Ortes des Ewigen. Das Studium und das Gespräch über die Thora, die Schrift, wurde zu einem beweglichen Ort der Begegnung. Aus dieser Tradition wuchsen an vielen neuen Orten zunächst im Mittelmeerraum solche Orte des Gesprächs und der Begegnung, Lehrhäuser, in denen sowohl mündliche als auch schriftliche Gespräche und Kommentare zur Schrift und über die gegebenen Gebote entstanden.

Orte der Begegnung verschiedener Blickwinkel, Orte des Abwägens und des genauen Auslotens, Orte mehr vom ‚Sowohl als auch‘ als vom ‚Entweder oder‘ geprägt, aber auch von Geboten der Thora bestimmt. Diese Gebote haben sich Christen und Muslime in ihren Schriften ebenfalls auf eigenständige Weise zu eigen gemacht und einen Raum des Vor-Gott-Lebens entwickelt. Diese Adaptionen sind nicht selten konfliktreich, bis zum heutigen Tage.

Wir haben viel zu besprechen über das Scheitern und das Gelingen, über das Verzweifeln und das Hoffen, über das Leben und das Sterben, über Gott/Ha Makom und die Welt. Wir brauchen viele große und kleine Orte – Gesprächsräume des Auslotens und des Abwägens, des Sowohl-als-auch, im Zwischenraum zwischen gut und böse, zwischen schwarz und weiß, zwischen richtig und falsch. Mögen unsere theologischen Gesprächsangebote ein Beitrag sein zu der Menge der Gesprächsräume, die wir hier und weltweit brauchen, damit das Zusammenleben von Verschiedenen in gegenseitigem Respekt und anerkennender Würde weiterhin bzw. endlich wieder gelingt. Diese Gesprächsräume bieten Schutz. Sie entstehen nur mit Ihnen und all den anderen zusammen, die sich, vielleicht zum ersten Mal, darauf einlassen.

SEMINAREMPFEHLUNG

Di., 18.02. – 20.05.2025, außer 02.04. und Osterferien | 11:00–12:45 Uhr
Vom Umgang mit Scheitern und Niederlagen
Die theologische Akademie am Vormittag
„Hinfallen – Aufstehen – Krone richten – weitergehen“. So sagt ein Sprichwort. Das Spannende sind die Bindestriche zwischen den Worten. Welche Ermutigung bzw. Motivation können denn zum Aufstehen helfen? Was passiert zwischen Hinfallen und Aufstehen? Die Bibel und theologische Tradition sind voller Kraftquellen und Perspektiven. „So Gott will – und er lebt“ (F.W. Marquardt) – vielleicht geht es in einer christlichen Theologie nach der Shoa nicht anders?
Jörg Heimbach, Dr. Martin Bock
Anmeldung erforderlich
10 Termine | 20 Ustd | 55,00 € | Nr. 1003B

Mi., 14.05.2025, 19:00–20:30 Uhr ONLINE
An den Kanten STARK
Interreligiös Theologie treiben – Infoabend
Das interreligiöse Lernprojekt beginnt im Sommer 2025 aufs Neue. Mit der Formulierung „An den Kanten“ betonen wir, wie wichtig uns die Verwicklung der Theologie in die großen gesellschaftlichen, ökologischen und spirituellen Transformationen ist. „Interreligiös Theologie treiben“ heißt, dass wir konsequent jüdische, christliche und muslimische Stimmen als Referent:innen und Teilnehmende ansprechen, auch über den Kölner Raum hinaus.
Dr. Martin Bock, Dorothee Schaper, Antje Rinecker
Anmeldung erforderlich
1 Termin | 2 Ustd | Eintritt frei | Nr. 1016B

Mi., 04.06.2024, 19:30–21:00 Uhr
Kirchenasyl tut Not und macht Sinn!?!
Ein Bericht zur aktuellen Situation
Gebetsort als schützender Raum für Menschen in Bedrängnis – diese Idee und Aufgabe ist so alt wie die Thora und das Alte Testament. Kirche als klärender Schutzraum für eine begrenzte Zeit. Dazu haben sich einige Kirchengemeinden entschlossen. Die Anfragen von bedrängten Personen reißen nicht ab. Wie sieht die aktuelle Lage aus? Was macht das Dublin-Abkommen mit dem Kirchenasyl? Das ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche NRW berichtet von aktuellen Erfahrungen hier in NRW und in Bulgarien. Das Netzwerk „Lokal Vielfalt“ aus Bilderstöckchen Nippes hat diesen Notstand im Blick und reagiert mit einem neuen Projekt. Es stellt seine aktuellen Perspektiven und Ideen für die Kölner Region vor.
In Kooperation mit Lokal Vielfalt und dem ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche NRW
Benedikt Kern, Reinhild Widdig, Jan Niklas Collet, Jake Jesinghaus
Anmeldung erforderlich
1 Termin | 2 Ustd | 5,00 € | Nr. 1033S

Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung  – auch in Köln

500 Jahre Reformation – war das nicht das große Jubiläum mit dem „Luther-Kopf“ vor ein paar Jahren. 2017? Nochmal „500 Jahre“?

Im 16. Jahrhundert entstanden im Zuge der reformatorischen Bewegung an vielen Orten Gruppen, die auf außerordentlich konsequente und radikale Weise Christsein neu zu leben versuchten. Während evangelische Menschen lutherischen oder reformierten Glaubens bald ohne Lebensgefahr ihren ‚neuen‘ Glauben leben konnten, weil die Fürsten oder Stadträte diese Reformation mitvollzogen, ging es den sogenannten Täufern weit ins 19. Jahrhundert anders. Sie wurden von allen Seiten verfolgt. „Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025“ erinnert daran, dass schon vor 500 Jahren viele Christ:innen als mündige Menschen gemeinsam und konsequent ein an biblischen Maßstäben ausgerichtetes Leben führen wollten. Ihre Ideale waren die Freiheit des Glaubens und Gewaltlosigkeit. Sie haben dafür auch Verfolgung, erzwungene Migrationen und Diskriminierung in Kauf genommen. …

Die erste sogenannte „Glaubenstaufe“ Erwachsener fand Ende Januar 1525 in Zürich statt. Hinter dem gemeinsamen Namen „Täufer“ verbarg sich eine vielfältige Bewegung. Gruppen wie die Mennoniten, die Hutterer, die Schweizer Brüder, die Melchioriten gehören dazu. Täufer lebten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland, in der heutigen Schweiz, aber auch in der Kurpfalz, in Bayern, Hessen, Thüringen, in Württemberg sowie in Österreich und in Mähren. Auch Baptisten und Quäker zählen zu diesem ‚gewagten‘ Spektrum.

Auch in Köln gibt es auch bis heute Gemeinden, die sich dieser Tradition zuordnen, zum Beispiel verschiedene baptistische und freikirchliche Gemeinden, auch die Quäker. In der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Köln (www.oekumene-koeln.de) gestalten sie am Sonntag, den 19. Januar, 18 Uhr den festlichen Gottesdienst  in der Altkatholischen Kirche Christi Auferstehung, Jülicher Str. 28, 50674 Köln, zu diesem Thema mit. Herzlich willkommen!

Im linksrheinischen Köln erinnern zwei Orte an diese Geschichte: Auf der Via Reformata (www.viareformata) weist eine Station – nahe der Schildergasse – stellvertretend für viele auf die Verfolgung des täuferischen Christen Gerhard Westerburg im 16. Jahrhundert hin. Ein weiterer Ort liegt in der Nähe des Barbarossaplatzes, beim heutigen „Haus Töller“. Dort, an einem damaligen Stadttor, wurde am 5. März 1558 Thomas von Imbroich hingerichtet – weil er die Kindertaufe und den Kriegsdienst verweigerte, keinen Eid leistete und darauf bestand, dass die christliche Gemeinde sich selbst egalitär leite. Ist es dieses Lebens-Wagnis und auch das damit verbundene Recht zur Religions- und Gewissenfreiheit nicht wert, ein Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum zu errichten?

Heimkehr – eine biografisch-theologische Annäherung an Franz Kafkas Erzählung „Heimkehr“. Von Martin Bock

Anm.: Dieser Beitrag von Dr. Martin Bock erscheint im Dezember 2024 in der Zeitschrift „Kirche und Israel“ 40 (2024), 167-175.

1. Generation Z: „Ich bin Gregor Samsa“

Wenige Tage vor Kafkas 100. Todestag am 3. Juni dieses Jahres erscheint in einer Beilage des Kölner Stadtanzeigers[1] ein spannender Artikel, der den Bezug und die Begeisterung der gegenwärtigen jungen „Generation Z“ (die zwischen 1995 und 2010 Geborenen) für das Werk von Franz Kafka in den Fokus stellt: Von dieser Generation werde Kafka „auf Tiktok und Co. gefeiert“, er sei dort ein „Star. Nicht nur seine Briefe werden geteilt, auch seine literarischen Werke lesen und zitieren die 14- bis 29Jährigen“ und setzen sie in einen intensiven Bezug zu ihrer Gegenwart. Es seien vor allem zwei Motive, so der Autor mit Bezug auf den Literaturwissenschaftler Nils Penke, die diese Generation so berührbar macht für Kafkas Texte: zunächst die besondere Bedeutung des Schreibens als Wirklichkeitshorizont, bei der „die Wirklichkeit modelliert und mobilisiert“ werden, Sprache und sinnliche Wirklichkeit aber zugleich in Differenz treten. Diese berühre die Erfahrung jugendlicher Erwachsener in den sozialen Netzwerken, sich in einer fragilen Intimität zu befinden und zu bewegen. Das Schreiben, das Bezug-, Wahr-, Kontakt- und Distanznehmen auf den und die Andere durch das Schreiben sei eine Erfahrung, in der sich die Generation Z in Kafkas Texten wider-spiegele und sie in eigenen, durchaus flüssigen ‚sozialen Medien‘ und Texten auch perpetuiere. Damit verbinde sich die massive Erfahrung von Verlassen- und Einsamkeit, die besonders jene Generation in den vergangenen Jahren, zum Beispiel durch die Corona-Pandemie, erleiden musste und die ein Tiktok-User mit Bezug auf Kafkas Text ‚Die Verwandlung‘ in folgenden Post fasst: „Zu wissen, dass die ‚Verwandlung‘ eine Metapher für diejenigen ist, die die Hoffnung und den Willen zum Leben verloren haben und von Menschen verlassen wurden, weil sie einfach nutzlos zurückblieben und das wahre Gesicht unserer Gesellschaft zeigen, ist sehr traurig“.

Als Vater zweier junger Erwachsener, die in der Tat in den vergangenen Jahren mit ihrer ganzen Generation massiv und immer wieder (Corona, Klimakrise, Zunahme von Einsamkeit) in ihrem Lebensfluss unterbrochen und irritiert werden, berührt mich diese Horizontverschmelzung und die Bedeutung, die Kafkas Texte aus einem schon-Geschriebensein in die Zukunft treiben.

[1] Kristian Teetz, Generation Kafka, Kölner Stadtanzeiger vom 1. Juni 2024.

 

2. Generation Y: „Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf“ (Ez 18,3).

„Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren, Josefine aber, erlöst von der irdischen Plage, die aber ihrer Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder.“[1] Als ich beginne, diesen Artikel zu schreiben, stoße ich auf die im Internet nicht verlorengegangene Traueranzeige meines Essen-Werdener Deutsch- und Geschichtslehrers Klaus Bergmann (1935-2018). Sie ist mit dem Ende der Erzählung „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ überschrieben, Kafkas letzter Erzählung aus dem Frühjahr 1924. Sofort wird mir wieder klar: Ohne meinen Lehrer und seine Leidenschaft für Franz Kafkas Texte wäre mein Leben anders verlaufen. Es war wohl eine produktive Überforderung, uns schon früh mit vielen Kurzgeschichten und Parabeln Kafkas in Berührung zu bringen, nach kurzer Zeit den „Prozess“ und das „Schloss“ lesen zu lassen, mit seinem Deutsch- und Musik-Leistungskurs 1984 10 Tage in Prag zu verbringen – um meine eigene schulische Kafka-Auseinandersetzung im mündlichen Abitur in eine Interpretation der Erzählung „Heimkehr“[2] münden zu lassen. Meiner Generation, also jenen Jugendlichen, die als junge Gymnasiasten 1978 den Film „Holocaust“ entweder selbst sehen oder aber die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leid des jüdischen Volkes in diesem Kontext mit Furcht und Schrecken rezipierten, die ihren Eltern eine Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen und politischen Verantwortung abringen  – und die auch wahrnehmen, dass die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen und der Geschichte des Antisemitismus auch das Christentum, in dem ich zarte Wurzeln geschlagen hatte, tiefgreifend betreffen. Die religiöse „Verzauberung der Welt“[3], das spürte ich, war ohne eine Auseinandersetzung mit der theologischen Erschütterung, die der Nationalsozialismus für die Grundfesten des christlichen Glaubens bedeutet, nicht mehr möglich. Für einen Jugendlichen der 80er Jahre, für den die religiös-romantische Sehnsucht nach den kulturellen Quellen des „Alles wird gut“-Gefühls zum Coming-of-Age gehörte, war dies keine geringe Herausforderung.  Umso mehr bin ich dankbar, dass dieser Lehrer aus den Gesprächen und aus seinem enormen Interesse für jeden einzelne Schüler:in spürte, wie sehr uns insbesondere vor diesem generationellen Hintergrund das Judentum als Religion, Kultur und auch als notwendiger Kontext für Kafkas Biografie und literarisches Schaffen interessierte, neugierig machte und uns lockte, ‚hinter die Kulissen‘ der Geschichte und der Textwelten dieser Religion, ihrer Verknüpfungen mit dem Christentum, aber auch in die abgründige Geschichte der Verachtung des Judentums zu schauen.

Seitdem kehre ich als Mensch, als Theologe, als Vater, immer wieder zu und in den Text ‚Heimkehr‘ zurück und entdecke Zwischentöne der textlichen Berührung Kafkas mit dem Zurückgelassenen des ‚alten Hofes‘.

[1] Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, in: Franz Kafka. Erzählungen, in: Franz Kafka. Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, 200-216, hier: 216.
[2] Die Überschrift „Heimkehr“ ist offenbar von Max Brod dem Text zugeschrieben worden. So Bertram Rohde, „und blätterte ein wenig in der Bibel“. Studien zu Franz Kafkas Bibellektüre und ihren Auswirkungen auf sein Werk, Würzburg 2002, 141.
[3] Vgl. Jörg Lauter, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014.

3. Erlittene Nähe wie Fremdheit – eine Annäherung an die Erzählung ‚Heimkehr‘

Durch ein kurzes Bad in der schier endlosen Sekundärliteratur nehme ich wahr, wie eng manche Auslegungen die Verzahnung von „Heimkehr“ mit dem neutestamentlichen Gleichnis vom ‚verlorenen Sohn‘ im Lukasevangelium (15, 11-32) anlegen[1] – begründet u.a. damit, dass Kafka diesen biblischen Text explizit durch einen Mit-Kurgast im Naturheilsanatorium 1912 vermittelt bzw. ans Herz gelegt bekommen habe[2], aber auch durch die text-motivische Auseinandersetzung mit dem „‘Urverhältnis zwischen Vater und Sohn“, das bei Kafka „zerschlagen“ werde, da es „zu keiner eigentlichen Heimkehr mehr“ komme.[3]

Ich bin nicht sicher, ob es dem Verstehen der Parabel Kafkas wirklich dient, diese mit einem weiteren, gewissermaßen unsichtbaren Text, regelrecht zu vergleichen und dazu noch einer historisch-biografischen Situation zuzuordnen. Vielleicht schärfen jedoch diejenigen Motive aus der Erzählung „Heimkehr“ die den (christlichen) Lesenden auch aus jener neutestamentlichen Erzählung ‚bekannt vorkommen‘ und die zugleich in Kafkas Text ganz eigenständig entwickelt sind, den Blick auf dessen Proprium. Deshalb schauen wir zunächst auf die Erzählung selbst.[4]

„Heimkehr“ ist vollständig aus einer Ich-Perspektive erzählt. Die Erzählung nimmt die Lesenden mit in eine Rückkehr in „meines Vaters alten Hof“. Er nimmt an der Beobachtung teil, die der Ich-Erzähler, der „den Flur durchschritten hat“, aus der Mitte des Hofes, den Blick schweifen lassend, vollzieht. Schritt für Schritt lässt er ihn teilhaben an der sinnlichen Erfahrung, die die Rückkehr für den Ich-Erzähler bedeutet. Es ist wirklich eine sinnliche Erfahrung, die wir in ihren verschiedenen Stufen, Tiefen, Dimensionen und ihrer emotionalen Qualität mitvollziehen: eine Rückkehr an einen Ort mit seinem ‚Inventar‘; eine Rückkehr zu Menschen, in Beziehungen hinein, die der Ich-Erzähler verlassen hat und in deren Erfahrungsraum er durch seine Rückkehr wieder vorstößt. Wir erfahren, dass die vollzogene Rückkehr zu dem Ort, zu des „Vaters Haus“ die zweite Frage „Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche?“ anstößt. Die Beobachtung des Ich-Erzählers richtet sich nun auf das, was er als Spuren von den Menschen, deren Empfang er imaginiert, wahrnimmt: wärmender Rauch aus dem Schornstein, „der Kaffee zum Abendessen wird gekocht“. Was der Erzähler sieht und riecht, führt den Angekommenen aber nun nicht dazu, sich den Menschen an diesem Ort zuzuwenden, sich ihnen zu zeigen, also auch für die Anderen anzukommen. Das Gegenteil ist der Fall: Die sinnlichen Eindrücke drängen ihn zurück in die innere Reflexion, in die Unsicherheit. „Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause?“ Die empfundene Unsicherheit, ob seine Rückkehr wirklich eine Ankunft werden kann,  drängt sich nun auch in die Wahrnehmung des Ortes hinein: „Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück …“. Das Gefühl des Wieder-Erkennens von Haus und Menschen weicht der Entfremdung, ja kehrt sich sogar ins Gegenteil: Die Bedeutung der „Stücke“ sind dem Erzähler überhaupt nicht bekannt, teils hat er sie „vergessen“. Das Gefühl, auch den Menschen, die an „seines Vaters Haus“ leben, nichts nützen zu können, ja ihnen überhaupt nichts (mehr) zu sein, also gewissermaßen den Familien- und Sohnes-‚Status‘ verloren zu haben, ist stärkster Ausdruck dieser enttäuschter und vielleicht in diesem Augenblick gescheiterten Rückkehr. Die Bewegung hin zum und das Durchschreiten des väterlichen Hofes mündet nun einer inneren Erstarrung. Intendierte Bewegungen, die die Distanz überwinden können, wie ein Klopfen an die Küchentür, sind ihm nicht (mehr) möglich.

Der sinnliche Kontakt zu Hof und Menschen beschränkt sich nun auf ein Horchen „von der Ferne“. Diese Ferne, diametral dem ursprünglichen Stehen in der Mitte des Hofes gegenübergestellt, bringt es mit sich, dass ‚objektiv‘ „nichts“ zu hören ist. Wenn er dennoch etwas wahrnimmt, verschwimmt der sinnliche Eindruck mit der Erinnerung „aus den Kindertagen“. In der Gegenwart des Zurückgekehrten bestimmt hingegen Distanz zwischen Erzähler und den Anderen das Geschehen. Sie hat das Warten und Erwarten abgelöst. Geht jene Distanz und Fremdheit allein vom Erzähler aus oder besteht sie tatsächlich auch bei den „dort Sitzenden“, die ihre Gegenwart, ihre Verbundenheit mit Ort und Menschen vor ihm „wahren“?

Die beiden letzten Sätze der Erzählung resümieren die Erfahrung desjenigen, der zurückgekehrt „ist“. Er verlässt den aufgesuchten Ort nicht wieder, kehrt nicht wiederum zurück, aber verbleibt im Zögern „vor der Tür“. Auf Dauer? Noch einmal erscheinen die, die sich hinter jener Tür aufhalten. Es ist das erste Mal, in der sich die Anderen auf ihn zubewegen, indem sie die Tür öffnen und ihn ansprechen – könnten. Aus dem Zurückgekehrt-Sein, aus dem Aufsuchen des Ortes und seinen Lebens- und Begegnungsmöglichkeiten ist ein ferner Möglichkeitsmodus geworden. Und doch hat dieser Modus seine Würde. Denn die, die hier leben und ihn, der zurückgekehrt ist, verbindet die Dimension des „Geheimnisses“. Dieses Geheimnis lässt sich durch das Öffnen einer Tür und wohl auch nicht durch Frage und Antwort, durch keinen Empfang durchbrechen. Es bleibt nur ‚gewahrt‘, wenn die Heimkehr sich so vollzieht, wie der Erzähler sie berichtet, nämlich in tiefster Individualität und Einsamkeit, zugleich aber auch in der phänomenologisch-sinnlichen Erfahrung eines Ortes und seiner Menschen, zu dem und zu denen ich tatsächlich zurückkehre – in erlittener Nähe wie Fremdheit.

[1] Vgl. Rohde, a.a.O., 141ff.
[2] Franz Kafka, Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcom Passey, Frankfurt a. M. 1982,  1046.
[3] So Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt a. M 1964, 62ff. Eine tiefangelegte motivische Untersuchung der Erzählung in ihrem Verhältnis zum biblischen Gleichnis findet sich bei Rohde, a.a.O., 141ff.
[4] Zitiert nach: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. von Max Raabe, Frankfurt a.M., 320f.

4. „Es ist heut keiner, der nicht entfremdet ist“ (F. Rosenzweig). Christlich-jüdisches Lernen auf dem Weg einer zweiten Naivität

Wenn Kafka seine Erzählung ‚Heimkehr‘ auch in Kenntnis und als Leser der neutestamentlichen Erzählung vom ‚verlorenen Sohn‘ zu Papier bringt – oder aber zumindest wir als Lesende diese Rezeptions-Brücke herstellen – dann gelingt es ihm, ein ‚weißes Feuer‘ zwischen den Buchstaben zum Leuchten zu bringen, das meine eigene (christliche) Verstehens-Perspektive dieses Textes sehr bereichert:

‚Heimkehr‘ lässt mich teilhaben an der Rückkehr eines erwachsenen Menschen in ‚meines Vaters alten Hof‘. Sie ist getränkt von der Erfahrung der Wieder-Begegnung mit Zurückgelassenem, mit Verlassenem. Die zurückliegenden Erfahrungen, die zur Trennung, zum Aufbruch, zum Verlassen, führten, werden in ‚Heimkehr‘ nicht thematisiert. Die Erzählung beginnt mit der vollzogenen Heimkehr – die nicht zu einer Aufhebung von Schmerz und Ambivalenz, nicht zur ‚Versöhnung‘ mit Vater und Geschwistern führt, sondern zu Erfahrungen, die neue Zerrissenheit, Sehnsucht und Ferne mit sich bringen, aber auch die Akzeptanz jener Ferne und des Geheimnisses zwischen Menschen, das nicht anders erzählbar ist als durch die Text und Schrift werdende Berührung mit dem Versuch, dem Entschluss zur Heimkehr. Dass er nicht zu einem Ziel, sondern zu einer Möglichkeit, und sei es einer zögerlichen, führt, vollzieht der Lesende mit.

Sind diese Leseerfahrungen nicht hilfreich, um biblische Erzählungen wie zum Beispiel die vom ‚verlorenen Sohn‘ aus der Entweder-Oder-Logik des Gelingens respektive Erfülltwerdens bzw. des Scheiterns herauszuführen? Auch in Luk 15, 11ff. bleibt erstaunlich offen, ob die durch die Rückkehr des jüngeren Sohnes neue Familienkonstellation glücken kann. Wird es den ‚Eltern‘ gelingen, die Lebenserfahrungen des fern-nahen Sohnes, seine offensichtliche Traumatisierung in der Ferne (Luk 15, 14-17), und die des zu Hause Gebliebenen zusammenzuhalten? Die biblische Erzählung beantwortet diese Frage über den Appell des Vaters hinausgehend (v. 24) nicht – die jüdisch-christliche Geschichte von Synagoge und Kirche, die zur Rezeptionsgeschichte der Bibel gehört, jedoch erzählt auf ihre Weise, wie die beiden „Erbteile“ von Judentum und Christentum gegeneinander ausgespielt werden und zu einer Ferne und Fremdheit führten und noch führen. Dass die Entfremdungsgeschichten beider Religionen, der christliche und rassische Antisemitismus der Neuzeit, die Assimilisierungsbestrebungen der jüdischen Minderheiten etc. weitere Prozesse mit sich bringt, die es schwer und kompliziert machten, Zugehörigkeit zu empfinden, hat Franz Kafka im deutschsprachigen Judentum im tschechisch-christlichen Prag und auch in der eigenen familiären Situation zutiefst erfahren.[1]

In Kafkas erzählerischer Bewegung[2] von ‚Heimkehr‘ finde ich einen ‚Mut zur Zögerlichkeit‘, der nicht nur der Lektüre und Auslegung biblischer Texte wie der vom ‚Verlorenen Sohn‘ guttut. Der Berliner Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt weist entgegen einer immer wieder drohenden Privatisierung der Auslegung von Lukas 15, 11ff. darauf hin, dass es in dieser Erzählung auch um die „großen Verheißungen Gottes an die Menschen“[3] geht. Sie spiegeln sich in jenem Umgang mit dem „Erbe“, das in der biblischen Erzählung auf zwei Brüder verteilt wird. Der jüngere Bruder, in seinem nachvollziehbaren ‚Zwang‘, aufzubrechen und das Erbe als Jüngerer pekuniär anzutreten, beschleunigt die Zeit und „will sich selbst die Verheißung erfüllen, die ihm versprochen ist. … Mit solchen Forderungen gebärden wir Christen von heute uns wild und ungeduldig, sind zappelig und können nicht mehr abwarten, dass Gottes Leben sich erfüllt und sich in uns vollendet“. Der andere Bruder „hat dazu eine andere innere Einstellung. Bis die Verheißung sich erfüllt, lebt und arbeitet er aus der Verheißung. Er dient um ihre Erfüllung lange, lange Jahre, wie Jakob um Rahel, bleibt zielgerichtet, bleibt zwar zuhause, hält fest an der Tradition des Vaters, aber er bleibt offen nach vorne.“[4]

Als theo-logische Mitte der Erzählung macht Marquardt jedoch den Maqom, also Gott selbst als ‚Ort der Welt‘ aus: Die Geschichte von den beiden ein- und auskehrenden Söhnen zielt auf den freude-taumelnden, seligen Maqom, den Gott mit sich und für andere aus-füllen will und: „Er ist das Wesen, das den Sündern entgegenstürmt, das alles und alle zum Tanzen bringt; er ist es, der zum Fest rüstet und ersetzt, was wir verschleudern und verspielen.“ Die Heimkehr ist zuallererst „Gottes Antwort auf sich selbst. Er erfüllt sich seine Sehnsucht nach uns.“[5] Erzählbar wird diese theo-logische Mitte angesichts der zappelnden und ungeduldigen versus im Modus der Möglichkeit lebenden Geschwister nur als eine U-Topie. Der „Ort“, der Menschen als Geschöpfen Gott bereit- und offensteht, ist in der Wirklichkeit der Welt-Orte umstritten, verloren, umkämpft, zerrissen und verlassen. „Es kann dazu kommen, dass nicht Eden die Utopie ist, sondern der Ort ‚jenseits von Eden‘“[6].

Spricht nicht auch Kafkas Text ‚Heimkehr‘, der so zentral um den Ort des ‚alten Hofes‘ herum platziert und erzählt ist, in diese Zerrissenheit des Ortes ‚jenseits von Eden‘ hinein, der nur in einer Ambivalenz von Nähe und Ferne, von Trennung und erneuter Bewegung, anwesend ist? Zu Recht macht Karl Josef Kuschel darauf aufmerksam, dass Kafka, sofern er sich in seinem literarischen und auch autobiografischen Werk überhaupt auf biblische Texte bezieht, angezogen wird von Themen, die mit der „Vertreibung aus dem Paradies, Sündenfall, nicht aber Exodus, Prophetie und Erlösung“[7] verbunden sind. „Nur das Alte Testament sieht – nichts noch darüber zu sagen“, notiert Kafka einmal in seinem Tagebuch.[8] Dieses, biblische Texte aufgreifende und von Kafka selbst fortgeschriebene ‚Sehen‘ hat jedoch nicht nur einen „quälenden Aufklärungsprozess über sich selbst“[9] zum Gegenstand.

Kafka kommt, unter anderem durch Vorträge Martin Bubers in Prag (1909-1910), durch seine Begegnung mit der ostjüdischen Theatertruppe unter Leitung von Jizchak Löwy, seine Annäherung an die jiddische Sprache, an den Zionismus, mit einem Strom jüdischer Erneuerung und Hermeneutik in Berührung, wie ihn Franz Rosenzweig, Martin Bubers engster theologischer Partner, in seiner Rede zur Eröffnung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt 1920 programmatisch so zum Ausdruck bringt: „Es ist heut keiner, der nicht entfremdet ist.“ Deshalb brauche es ein „Lernen in umgekehrte Richtung. … Ein Lernen, zu dem am befähigsten heute der ist, der – am meisten Fremdes mitbringt. Also gerade nicht der jüdische Fachmann. Jedenfalls der jüdische Fachmann nicht als Fachmann, sondern auch er nur soweit er Entfremdeter ist, soweit er Heimsuchender, Heimkehrender ist.“[10] Für dieses neue Denken und Lernen, so drückt es Rosenzweig an anderer Stelle aus, braucht es – Zeit. „Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.“[11]

Ernst Simon, Schüler von Franz Rosenzweig und Martin Buber, hat die Haltung dieses nicht absichtsvollen, sondern den Lebenserfahrungen des Erwachsenen folgenden und sie begleitenden Lernens als eine solche der ‚zweiten Naivität‘ bezeichnet. „Die Einfalt der Kindheit ist eine »immerwährende Vergangenheit« (Franz Rosenzweig), die sich bei der Geburt eines jeden Kindes täglich erneuert; die zweite Naivität hegt stets in der Zukunft, aber die ihr teilhaftig Gewordenen leben schon gegenwärtig in ihrer Atmosphäre, nicht immer, aber immer wieder.“[12]

In meiner rheinischen Heimat nicht weit von Köln lebe ich in der Nähe zweier Landsynagogen – Titz-Rödingen und Pulheim-Stommeln – , die heute auf unterschiedliche Weise Kultur- und Gedenkorte jüdischen Lebens sind. Die Landsynagoge in Rödingen erzählt die Geschichte ihrer jüdischen Stifterfamilie im 19. Jahrhundert, ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus und des erzwungenen Verlassens ihres Lebensortes. Das „Kunstprojekt Synagoge Stommeln“ erzählt davon, wie nach der Wieder-Entdeckung dieses Ortes in den 1990er Jahren Kunstprojekte internationaler Künstlerinnen und Künstler immer aufs Neue zur Auseinandersetzung mit jüdischem Leben in der Diaspora, seinen kulturellen Veränderungen, den antisemitischen Bedrohungen und seiner bleibenden Gegenwart einladen und ein intensives Spannungsfeld zwischen Raum, Besuchenden und Umgebung aufbauen.

Jedes Mal, wenn ich einen dieser beiden Orte allein oder mit Lerngruppen besuche, begleitet mich dabei in Gedanken auch Franz Kafkas Text „Heimkehr“. Mit den Nuancen, mit der Neugier einer ‚zweiten Naivität‘, erfüllt sowohl vom Schrecken des alten und neuen Antisemitismus in unseren Biografien und unserer Zeitgenossenschaft, erfüllt aber auch von den Lernerfahrungen mit jüdischem Leben, ihrer Literatur, Philosophie und Schriftgelehrsamkeit erfahre ich, was Rosenzweig in seiner Rede zum Ausdruck brachte: „Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.“

Für diese ekstatische wie vulnerable Erfahrung bin ich zutiefst dankbar.

[1] Karl Josel Kuschel zitiert aus Kafkas Tagebuchaufzeichnungen: „Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden“, in: Karl Josef Kuschel, Auf dem Seil. Franz Kafka, Stuttgart 2024, 58 (57-65).
[2] Kafkas Tagebucheintragung (siehe Anmerkung 4) geht so weiter: „… Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration“: a.a.O., 58.
[3] Friedrich-Wilhelm Marquardt, Lasset uns mit Jesus ziehen. Dahlemer Predigten und Texte über die Wege Jesu, hg. von Michael Weinrich, Neuendettelsau 2004, 150f.
[4] A.a.O, 150.
[5]  A.a.O., 151.
[6] F.W. Marquardt, Eia, wärn wir da. …, 65.
[7] Kuschel, a.a.O., 101.
[8] Bei Kuschel, a.a.O., 106.
[9] A.a.O., 104.
[10] , 97.
[11] Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, in: Ders., Kleinere Schriften., 373-398, hier: 386f.
[12] Ernst Simon, Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, S. 273-279, hier: 278.
« Ältere Beiträge

© 2025 Melanchthon Blog

Theme von Anders NorénHoch ↑